Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
ich hielt den Tod auf der flachen Hand.
»Und wie wirkt es?«
»Nicht sofort. Er wird nicht auf der Stelle tot umfallen, wenn du das befürchtest. Wenn er länger beim Becher sitzt, wird ihm übel werden. Wie ich Kelvar kenne, begibt er sich daraufhin mit seinem verkorksten Magen ins Bett, um morgens nicht mehr zu erwachen.«
Ich steckte das Pulver ein. »Weiß Veritas Bescheid?«
Chade rieb sich das Kinn. »Veritas ist so gut wie sein Name. Er könnte nicht mit einem Mann am Tisch sitzen, dem er Gift in den Wein getan hat, und sich nichts anmerken lassen. Nein, bei diesem Unternehmen dient uns Heimlichkeit besser als die Wahrheit.« Er sah mir in die Augen. »Du wirst alleine arbeiten, nur auf dich selbst gestellt.«
»Ja.« Ich rutschte auf dem hochlehnigen Stuhl herum. »Chade?«
»Was denn?«
»War es für dich genauso? Das erste Mal?«
Er senkte den Blick und strich angelegentlich über die feuerroten Narben auf dem Rücken seiner linken Hand. Das Schweigen dauerte lange, aber ich wartete.
»Ich war ein Jahr älter als du«, meinte er schließlich. »Und mir oblag es nur, die Tat auszuführen, niemand fragte, ob ich es mit meinem Gewissen vereinbaren könnte. Genügt dir das?«
Plötzlich war ich verlegen, ohne zu wissen, warum. »Ich glaube schon.«
»Gut. Ich weiß, du hast es nicht böse gemeint, Junge. Aber ein Mann prahlt nicht mit seinen Heldentaten auf dem Feld der Liebe, und Assassinen reden nicht übers – Geschäft.«
»Nicht einmal der Lehrer mit dem Schüler?«
Chade sah von mir zu einem dunklen Winkel der Zimmerdecke. »Nein.« Einen Atemzug später fügte er hinzu: »In zwei Wochen verstehst du vielleicht den Grund.«
Und mehr wurde darüber nicht gesprochen.
Nach meiner Rechnung war ich dreizehn Jahre alt.
Kapitel 8
Lady Quendel
Eine Geschichte der Herzogtümer ist zwangsläufig ein Abbild ihrer Geographie. Der Hofschreiber König Listenreichs, ein gewisser Fedwren, pflegte dies zu sagen. In der Tat haben meine Erfahrungen diesen Ausspruch bestätigt. Vielleicht ist die Geschichte aller Länder nur die Folge ihrer natürlichen Grenzen. Getrennt durch Meer und Eis, entwickelten wir und die Outislander uns zu eigenen Völkern; wegen der fetten Weiden und fruchtbaren Äcker der Herzogtümer wurden wir zu Feinden – davon könnte das erste Kapitel handeln. Den Flüssen Bär und Vin verdankt Tilth seine üppigen Weinberge und Obsthaine, Sandsedge hingegen lag hinter dem Sonnengratmassiv zwar geschützt, aber auch isoliert und war eine leichte Beute für unsere gut organisierte Armee.
Ich erwachte vor dem ersten Hahnenschrei und staunte, daß ich überhaupt geschlafen hatte. Dank Burrichs Strenge und Umsicht war mein Bündel geschnürt. Von mir aus stand einem sofortigen Aufbruch nichts im Wege, doch um einen großen Trupp von Menschen auf den Weg zu bringen, bedarf es zeitraubender Vorbereitungen. Stunden vergingen, bevor wir alle versammelt und marschbereit waren.
»Angehörige des Herrscherhauses«, hatte Chade mich gewarnt, »reisen niemals leicht. Veritas repräsentiert bei dieser Mission die Autorität des Monarchen. Mit Staunen und Ehrfurcht soll das Volk ihn vorbeiziehen sehen. Die Nachricht von seinem Kommen in Macht und Herrlichkeit soll ihm vorauseilen, so daß Kelvar und Shemshy sich wünschen, sie hätten nie irgendwelche Streitigkeiten gehabt. Das ist wahre Regierungskunst – in den Untertanen den Wunsch erwecken, nichts zu tun, was den Souverän veranlassen könnte, sich einzumischen.«
Deshalb reiste Veritas mit einem Pomp, der seinem soldatischen Naturell sichtlich zuwider war. Die Männer seiner Leibgarde trugen außer seinen Farben auch das Bockswappen der Weitseher und ritten als geschlossener Pulk vor den regulären Truppen. Für mich war das allein schon beeindruckend genug. Um den martialischen Eindruck zu mildern, ließ der Kronprinz sich von einer großen Entourage begleiten, die am Ende des Tages für Zerstreuung und höfische Kurzweil sorgen sollte. Falken und Hunde mit ihren Betreuern, Musikanten und Barden, ein Puppenspieler, Pagen, Zofen, Laufburschen, Köche, zum Schluß die hochbeladenen Lasttiere – der bunte Troß zog hinter den berittenen Edelleuten her und bildete den Hauptteil unserer Karawane.
Mein Platz war ungefähr in der Mitte der Schlange. Ich saß auf Rußflocke neben einer luxuriösen Sänfte, die von zwei lammfrommen grauen Wallachen getragen wurde. Flink, einen der etwas fixeren Stallburschen, hatte man auf ein Pony gesetzt
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