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Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Titel: Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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der Kapitän brachte uns dichter an die ragenden Klippen heran, als ich für möglich gehalten hätte, aber die Pferde zu überreden, das Schiff zu verlassen, war trotz allem ein zermürbendes Unterfangen. Sämtliche Maßregeln und Warnungen Chades hatten mich nicht darauf vorbereitet, wie schwarz eine Nacht auf dem Meer war. Die Laternen auf Deck vermochten nichts gegen die Dunkelheit auszurichten. Statt zu helfen, verwirrten sie mich mit ihrem Licht- und Schattenspiel und den flimmernden Reflexen auf den Wellen. Zu guter Letzt ruderte ein Matrose Chade im Beiboot ans Ufer, während ich die Pferde ins Wasser trieb und dann hinuntersprang, weil ich wußte, Rußflocke würde sich gegen einen Leitzügel sträuben und wahrscheinlich das Boot zum Kentern bringen. Ich klammerte mich an ihrer Mähne fest und hoffte, daß sie verständig genug war, auf den schwachen Lichtschein am Ufer zuzuhalten. Chades Braunen hatte ich an den langen Zügel genommen, weil ich seine rudernden Hufe nicht so dicht bei mir haben wollte. Das Meer war kalt, die Nacht tintenschwarz, und jeder vernünftige Mensch hätte sich sonstwohin gewünscht, doch ein Junge verfügt über die besondere Fähigkeit, höchst weltliche Widrigkeiten als aufregendes Abenteuer und persönliche Herausforderung zu sehen.
    Triefend, durchfroren und euphorisch watete ich ans Ufer. Rußflocke hatte ich am Zügel, und Chades Brauner folgte uns ohne viel Zureden aufs Trockene. Gleich war auch Chade neben mir, brachte die Laterne und lachte übermütig. Der Mann im Beiboot hatte bereits wieder vom Ufer abgestoßen und kehrte zum Schiff zurück. Chade gab mir den Beutel mit meinen trockenen Sachen, aber sie nützten mir nicht viel, über die tropfnassen Kleider gezogen. »Wo ist der Pfad?« fragte ich zähneklappernd.
    Chade stieß verächtlich die Luft durch die Nase. »Pfad? Ich habe mich umgesehen, während du mit den Pferden beschäftigt warst. Das ist kein Pfad, höchstens eine Rinne, die das Regenwasser ausgewaschen hat. Doch wir haben keine andere Wahl.«
    Wie sich herausstellte, war es nicht ganz so schlimm, aber auch keineswegs gut. Der Pfad war schmal und steil, und der Boden bestand aus losem Geröll. Chade ging mit der Laterne voran, ich folgte mit den Pferden im Schlepptau. An einer Stelle scheute der Braune und drängte zurück, brachte mich aus dem Gleichgewicht und zwang Rußflocke, die in die andere Richtung zog, fast auf die Knie. Ich hatte den Schreck noch nicht überwunden, als wir den Rand des Steilhangs erreichten.
    Dann breiteten sich die Nacht und das weite Land um uns aus, unter einem verschleierten Mond und den ausgesäten Sternen, und wieder packte mich der Geist der Herausforderung. Chades ekstatische Stimmung mußte auf mich übergesprungen sein. Von dem Carrissamen waren seine Augen groß und glänzend, sogar bei Laternenlicht, und seine Lebhaftigkeit, obwohl unnatürlich, wirkte ansteckend. Selbst die Pferde schienen etwas zu spüren, schnaubten und warfen die Köpfe. Wir zogen die Sattelgurte stramm und stiegen auf. Chade musterte den sternenklaren Himmel und dann den Hang, der sich vor uns senkte. Mit dramatischer Gebärde hängte er die Laterne an den Sattel.
    »Auf!« befahl er und spornte den Braunen, der sofort davonstürmte. Rußflocke wollte nicht zurückbleiben, und deshalb tat ich, was ich nie zuvor gewagt hatte: Ich galoppierte bei Nacht über unbekanntes Terrain. Es kommt einem Wunder gleich, daß wir uns nicht alle das Genick gebrochen haben. Doch so geht es – manchmal ist das Glück mit Narren und Kindern. In jener Nacht waren wir, glaube ich, beides.
    Chade übernahm die Führung, und ich folgte ihm. Damals löste sich für mich ein weiteres Teil des Rätsels um Burrich. Den eigenen Willen aufzugeben, sich bedenkenlos, auf Gedeih und Verderb einem anderen auszuliefern bewirkt ein Gefühl tiefen inneren Friedens. Während jener wilden Jagd damals, als uns der Reitwind um die Ohren pfiff und nur die Sterne Chade als Wegweiser dienten, verschwendete ich keinen Gedanken daran, was geschehen könnte, falls wir die Orientierung verloren oder ein Pferd stürzte und der Reiter aus dem Sattel geschleudert wurde. Ich fühlte mich jeglicher Verantwortung für mein Tun enthoben. Alles war plötzlich einfach und klar. Ich tat, was Chade mir sagte, und baute darauf, daß er mich vor Schaden bewahrte. Hochgemut ließ ich mich von dieser Woge des Vertrauens tragen, und irgendwann begriff ich: Dies war, was Burrich von Chivalric bekommen hatte

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