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Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen

Titel: Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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meinen Gedanken aufgeschreckt.
    »Die Geiseln. Sie haben sie zurückgeschickt.«
    »Wo?«
    Chade schaute mich ungläubig an, als wäre ich nicht ganz bei Verstand oder sträflich dumm. »Dort. In den Trümmern des Hauses dort drüben.«
    Es ist schwer zu beschreiben, was in der nächsten Sekunde meines Lebens mit mir geschah. So vieles stürmte auf mich ein und alles gleichzeitig. Ich hob den Blick und sah eine Gruppe von Menschen, Männer, Frauen und Kinder sämtlicher Altersstufen, die in dem niedergebrannten Haus nach Brauchbarem suchten. Sie waren zerlumpt und schmutzig, doch es schien sie nicht zu stören. Während ich zuschaute, griffen zwei Frauen nach demselben großen Kessel und gerieten sich sofort in die Haare. Ich mußte an zwei Krähen denken, die sich um eine Käserinde zankten. Sie keiften und spuckten und warfen sich Schimpfnamen an den Kopf, während jede an ihrem Henkel in die entgegengesetzte Richtung zog. Die anderen ringsum schenkten ihnen keine Bedeutung, sondern fuhren fort, ihrerseits einzuheimsen, was sie finden konnten.
    Ich wunderte mich. In den Geschichten war stets die Rede davon, wie sich nach einem Überfall die Dorfbewohner zusammentaten und gegenseitig halfen. Diese Leute jedoch schien es nicht zu kümmern, daß sie fast ihren gesamten Besitz verloren hatten, daß Angehörige und Freunde bei dem Überfall ums Leben gekommen waren. Statt dessen neidete einer dem anderen die kärglichen Reste.
    Das allein war eine bestürzende Erfahrung.
    Doch ich konnte sie auch nicht spüren.
    Bis Chade mich auf sie aufmerksam machte, hatte ich sie weder gesehen noch gehört. Ohne ihn wäre ich einfach vorbeigeritten. Die Erkenntnis, daß ich anders war als alle, die ich kannte, traf mich wie ein Schlag. Man denke sich ein sehendes Kind, das in einem Dorf von Blinden heranwächst, wo niemand auch nur die Möglichkeit eines derartigen Sinnes ahnt. Das Kind hätte keine Worte für Farben, hell oder dunkel, und seine Umgebung keine Vorstellung von der Art, in der das Kind die Welt wahrnimmt. Das war die Situation, in der wir uns befanden, als wir still auf unseren Pferden saßen und die Leute beobachteten. Denn Chade fragte ratlos: »Was ist los mit ihnen? Was kann bloß mit ihnen geschehen sein?« Ich wußte es.
    Die unsichtbaren Fäden, die uns Menschen verbinden, die sich zwischen Mutter und Kind spinnen, zwischen Mann und Frau und weiter, zu Verwandten und Nachbarn und zu aller Kreatur, selbst zu den Fischen im Meer und den Vögeln am Himmel, waren durchtrennt, das feingeknüpfte Netz zerstört.
    Mein ganzes Leben lang hatte ich mich unbewußt auf diese Strömungen verlassen, um zu wissen, ob andere lebende Wesen in der Nähe waren. Nicht nur Menschen, sondern auch Hunde, Pferde, sogar Hühner besaßen sie. Deshalb hob ich den Kopf und schaute zur Tür, bevor Burrich hereinkam, oder wußte, daß sich im Stall noch ein weiteres neugeborenes Hündchen befand, halb im Stroh begraben. Deshalb wachte ich auf, sobald Chade die Geheimtür öffnete. Weil ich Menschen spüren konnte. Dieser spezielle Sinn fungierte als Warnsignal, veranlaßte mich, Augen, Ohren und Nase zu gebrauchen, um genauere Informationen einzuholen.
    Aber von diesen Menschen gingen keinerlei Impulse aus.
    Wasser, das nicht naß ist und kein Gewicht hat – so etwa empfand ich diese Leute. Beraubt aller Attribute des Menschseins, all dessen, was sie zu lebenden Wesen machte. Mir kam es vor, als sähe ich zu, wie Steine sich von der Erde erhoben und mich mit toten Stimmen anknurrten. Ein kleines Mädchen fand einen Topf Marmelade, steckte die Hand hinein und leckte sie ab. Ein älterer Mann wandte sich von den angekohlten Stoffballen ab, die er auseinandergezerrt hatte, und ging zu ihr hin. Er riß den Topf an sich und stieß die Kleine zur Seite, ohne auf ihr wütendes Geschrei zu achten.
    Keiner von den anderen griff ein.
    Chade machte Anstalten abzusteigen, doch ich packte seine Zügel, stieß Rußflocke die Stiefelhacken in die Flanken und feuerte sie mit lauten Rufen an. Die Angst in meiner Stimme erschreckte sie, und trotz ihrer Müdigkeit fiel sie in Galopp. Dem Braunen blieb nichts anderes übrig, als ihrem Beispiel zu folgen. Chade wurde durch den Ruck fast aus dem Sattel geschleudert, doch er klammerte sich fest, und wir flohen aus der Geisterstadt, so schnell die Pferde laufen konnten. Die seelenlosen Stimmen folgten uns, kälter als das Heulen der Wölfe, kälter als Sturmwind im Kamin, aber wir waren beritten und ich voller

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