Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
seit einiger Zeit nicht mehr. Sofort tastete ich nach Nachtauge. Er war da, aber weit weg. Erschöpft, eingeschüchtert. Niemals habe ich soviel Blut gerochen, ließ er mich wissen. Wie recht er hatte. Ich stank noch immer danach.
Veritas war nicht untätig gewesen. Wir hatten kaum angelegt und waren an Land gegangen, als eine neue Besatzung an Bord kam, um mit der Rurisk Ersatz für die Gefallenen der Turmwachen sowie eine zweite Rudermannschaft zur Geweihinsel zu bringen. Veritas’ Prise würde am heutigen Abend an seiner Pier festmachen. Ein offenes Boot folgte ihnen, um unsere Toten nach Hause zu holen.
Der Kapitän, der Maat und Justin bestiegen bereitgehaltene Pferde, um zur Burg hinaufzureiten und Veritas Bericht zu erstatten. Ich empfand dankbare Erleichterung, daß man mich nicht ebenfalls befohlen hatte, und schloß mich meinen Kameraden an, die loszogen, um zu feiern. Unglaublich schnell hatte sich die Nachricht von unserem Kampf und Sieg in Burgstadt verbreitet. Kein Wirtshaus, in dem man sich nicht danach gedrängt hätte, uns mit Ale vollzufüllen und sich unsere Taten erzählen zu lassen. Es war fast, als erlebte man das blutige Chaos ein zweites Mal, denn wo immer wir hinkamen, entbrannten die Menschen in wilder Begeisterung über das, was wir getan hatte. Ich war trunken von der Erregung und dem Aufruhr der Gefühle um mich herum, lange bevor mir das Ale zu Kopf stieg. Nicht, daß ich darin Abstinenz geübt hätte. Ich überließ das Erzählen den anderen, aber beim Trinken machte ich diese Zurückhaltung mehr als wett. Zweimal mußte ich mich übergeben, einmal in einer Seitengasse und später auf der Straße. Dann trank ich weiter, um den üblen Geschmack hinunterzuspülen. Irgendwo im Hintergrund meines Bewußtseins spürte ich Nachtauges Entsetzen. Gift. Dieses Wasser ist vergiftet. Ich war nicht imstande, einen klaren Gedanken zu formulieren, um ihn zu beruhigen.
Irgendwann vor Tagesanbruch schleifte Burrich mich aus einer Spelunke. Er war stocknüchtern und seine Miene besorgt. Auf der Straße blieb er unter einer blakenden Fackel an einer Hauswand stehen. »Du hast immer noch Blut im Gesicht«, sagte er und stellte mich aufrecht hin. Er nahm sein Taschentuch, tauchte es in ein Regenfaß und wischte mir das Gesicht ab, wie er es nicht mehr getan hatte, seit ich ein Kind gewesen war. Schon die leichte Berührung brachte mich aus dem Gleichgewicht. Schwankend sah ich ihn an und bemühte mich, sein Gesicht ins Auge zu fassen.
»Ich habe doch nicht zum erstenmal getötet«, sagte ich undeutlich. »Warum ist es diesmal so anders? Warum macht es mich – krank, hinterher?«
»Weil das Töten diese Wirkung hat«, antwortete er leise. Er legte mir einen Arm um die Schultern, und verwundert stellte ich fest, daß wir gleich groß waren. Der Weg zur Burg hinauf war steil. Sehr lang. Sehr schweigsam. Burrich schickte mich ins Badehaus und empfahl mir, anschließend zu Bett zu gehen und zu schlafen.
Ich hätte seinen Rat befolgen sollen, aber leider war ich nicht vernünftig genug. Glücklicherweise herrschte in der Burg noch reges Leben, und ein weiterer Betrunkener auf der Treppe fiel nicht auf. In meinem dumpfen Unverstand ging ich zu Mollys Kammer. Sie ließ mich ein, doch als ich sie in die Arme nehmen wollte, wich sie zurück. »Du bist betrunken«, warf sie mir vor und weinte fast. »Ich habe dir gesagt, ich werde nie einen Betrunkenen küssen. Oder einem erlauben, mich zu küssen.«
»Aber ich bin nicht auf die Art betrunken, wie du meinst«, verteidigte ich mich.
»Es gibt nur eine Art, betrunken zu sein«, entgegnete sie und schickte mich weg.
Gegen Mittag des nächsten Tages, ausgeschlafen und ernüchtert, wußte ich, wie sehr ich sie damit verletzt hatte, daß ich nicht gleich zu ihr gekommen war, um Trost zu suchen. Ich konnte nachfühlen, was sie empfand, aber ich wußte auch, was mich in jener Nacht belastet hatte, gehörte nicht zu den Dingen, die man jemanden aufbürdet, den man liebt. Das wollte ich ihr erklären, doch ein Junge kam gelaufen, um mir zu sagen, daß ich sofort auf der Rurisk gebraucht wurde. Ich gab ihm einen Heller für seine Mühe und sah ihm nach, als er davonflitzte. Früher war ich der Junge gewesen, der sich mit Botengängen einen Heller verdiente. Kerry fiel mir ein. Ich versuchte mich an ihn zu erinnern, wie er gewesen war, aber das Bild wurde ausgelöscht von dem Entfremdeten, der tot auf einem Tisch lag. Gestern, dachte ich, war niemand verschleppt
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