Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Piraten verschwunden waren, in den Hafen einer Ortschaft ein und konnten nur noch helfen, die Toten zusammenzutragen und die Brände zu löschen. Dann tobte und fluchte Veritas in meinem Bewußtsein, daß die Nachrichtenübermittlung zu langsam vonstatten ging, daß er nicht Schiffe und Truppen genug hatte, um überall zu sein. Die Raserei einer Schlacht wäre mir lieber gewesen als Veritas’ ohnmächtiges Wüten in meinem Kopf. Und kein Ende in Sicht, nur bei schlechtem Wetter gab es Atempausen. Wir kannten nicht einmal die genaue Anzahl der Roten Schiffe, die uns heimsuchten, denn sie sahen alle gleich aus, wie Erbsen in einer Schote. Oder wie Blutstropfen im Sand.
Während meiner Zeit am Ruder der Rurisk in jenem Sommer hatten wir noch eine Begegnung mit einem Roten Schiff, die es wert ist, erzählt zu werden. Es war ein gespenstisches Erlebnis. In einer klaren Sommernacht waren wir von unseren Pritschen gejagt und zum Schiff in Marsch gesetzt worden. Veritas hatte hinter dem Bockskap einen Korsaren entdeckt. Er wollte, daß wir ihn im Dunkeln überholten.
Justin stand am Bug, durch die Gabe mit Serene in Veritas’ Turm verbunden. Veritas war ein wortloses Raunen in meinem Kopf, als er uns durch die Nacht zu dem Schiff lotste, das er mit der Gabe wahrgenommen hatte. Das Schiff und noch etwas anderes? Ich konnte ihn hinausgreifen fühlen, zu dem Korsaren und weiter wie ein Mann, der sich im Dunkeln durch unbekannte Räume tastet. Ich spürte sein Unbehagen. Wir durften nicht sprechen, und unsere Ruderblätter waren mit Lappen umwickelt, als wir uns der vermuteten Position näherten. Nachtauge flüsterte mir zu, er könne sie wittern, und dann sichteten wir den Feind – ein langgestreckter, niedriger Schatten, der vor uns durchs Wasser glitt. Plötzlich stieg von dort ein Schrei auf, man hatte uns entdeckt. Wir legten uns in die Riemen, doch aus dem Nichts überfiel mich plötzlich eine unsägliche Angst. Mein Herz schlug wie ein Hammer, meine Hände begannen zu zittern. Das Grauen, das mich durchflutete, war eines Kindes namenlose Furcht vor den Kreaturen der Dunkelheit, eine hilflose Furcht. Ich umklammerte das Ruder, doch meinen Armen fehlte die Kraft, es zu bewegen.
»Korrikska«, hörte ich einen Mann stöhnen, dem breiten Akzent nach ein Outislander. Nonge vielleicht. Mir wurde bewußt, daß ich nicht als einziger von diesem Schrecken ergriffen war. Einige von uns saßen zusammengesunken auf ihren Seekisten, während andere wie besessen ruderten, doch ohne gemeinsamen Rhythmus. Wir schlingerten über die glatte Oberfläche wie ein Wasserläufer mit nur fünf Beinen, während das Rote Schiff zielstrebig auf uns zukam. Ich hob den Blick und sah meinem Tod entgegen. Das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, daß ich das Schreien der von Panik ergriffenen Männer und Frauen um mich nicht hörte. Ich konnte nicht einmal atmen. Mein Blick ging zum Himmel. Hinter dem Roten Schiff lag wie dessen widernatürlicher Schatten und dreimal so groß ein weißes Schiff. Geister oder Entfremdete schritten über sein Deck. Ich spürte kein Leben von ihnen, und doch waren sie eifrig damit beschäftigt, ein kleines Beiboot zu Wasser zu lassen. Auf dem Achterdeck stand ein Mann. Sobald ich ihn erblickt hatte, konnte ich den Blick nicht mehr von ihm losreißen.
Er war in Grau gekleidet, doch ich sah ihn vor dem dunklen Hintergrund so deutlich, als würde er von einer Laterne angestrahlt. Ich schwöre, ich konnte seine Augen sehen, den scharfen Grat seiner Nase, den dunklen, lockigen Bart, der seinen Mund umrahmte. Er lachte mir zu. »Hier ist einer zu uns gekommen!« rief er einem Unsichtbaren zu und hob eine Hand. Sein ausgestreckter Zeigefinger deutete auf mich, und er lachte wieder, und ich fühlte, wie sich mir das Herz in der Brust zusammenkrampfte. Es war, als blickte er nur mich an, als hätte er nur mich allein von unserer gesamten Mannschaft zum Opfer auserwählt. Und ich schaute ihn an, meine Augen sahen ihn, aber ich konnte ihn nicht spüren. Dort! Dort! schrie ich laut, oder vielleicht war es nur die Gabe, die das Wort wie ein Echo durch meinen Schädel hallen ließ. Keine Antwort. Kein Veritas. Kein Nachtauge. Niemand. Nichts. Ich war allein. Die ganze Welt ein Ort der Stille. Meine Gefährten, ihr Grauen, ihr Entsetzen – für mich nicht mehr vorhanden. Nichts war mehr vorhanden. Keine Möwe, kein Fisch im Meer, kein Leben irgendwo, so weit meine inneren Sinne reichten. Die verhüllte Gestalt auf dem weißen
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