Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
er sich so gutwillig lenken wie ein Zugpferd. Bitte ihn, sich selbst die Kehle durchzuschneiden, und er wird darauf warten, daß man ihm das Messer reicht.«
»Nein.« Eine brüchige Stimme, ohne Kraft und Ausdruck. »Nein, mein guter Narr, so weit bin ich noch nicht.«
Wir warteten, atemlos, aber König Listenreich sprach nicht weiter. Schließlich trat ich langsam zu ihm hin, ging neben seinem Polsterstuhl in die Hocke und versuchte, seinen Blick einzufangen. »Majestät?«
Seine Augen streiften mein Gesicht, irrten ab, kehrten widerstrebend zurück. Endlich schaute er mich an.
»Habt Ihr alles verstanden, was gesagt wurde? Majestät, glaubt Ihr, daß Veritas tot ist?«
Seine Lippen teilten sich, die Zunge dahinter war grau. Er holte tief Atem. »Edel hat es gesagt. Eine Nachricht…«
»Von wo?« fragte ich behutsam.
Er bewegte langsam den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ein Bote… glaube ich.«
Ich wandte mich an meine Mitverschworenen. »Es muß ein Bote gewesen sein. Aus den Bergen, denn dort ist Veritas inzwischen. Der Trupp hatte schon fast den Blauen See erreicht, als Burrich zurückgeschickt wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Bote, nachdem er den ganzen langen Weg von den Bergen hinter sich gebracht hat, nicht bleiben würde, um Kettricken die Nachricht zu überbringen.«
»Bestimmt ist nicht ein Mann die ganze Strecke geritten«, wandte Burrich ein. »Die Entfernung ist zu groß. Zumindest hätte er unterwegs mehrmals die Pferde wechseln müssen. Oder aber er hat die Nachricht an einen anderen übergeben, der sie weiterträgt. Letzteres ist am wahrscheinlichsten.«
»Mag sein. Aber wie lange würde diese Nachricht brauchen, um uns zu erreichen? An dem Tag, an dem König Listenreich sich meiner bediente, um mit ihm zu sprechen, lebte Veritas ja noch. Der Abend, an dem ich beinahe ohnmächtig geworden wäre.« Ich sah den Narren an, der nickte, dann fügte ich hinzu: »Und ich glaube, er ist während der Schlacht von Guthaven bei mir gewesen.«
Ich sah, wie Burrich in Gedanken die Tage zurückrechnete. Er zuckte unwillig die Schultern. »Trotzdem ist es möglich. Falls Veritas an dem Tag getötet wurde und man umgehend einen Boten ausgesandt hat, und wenn sowohl die Reiter als auch die Pferde gut waren… Es könnte sich ausgehen. Gerade so eben.«
»Ich glaube nicht daran.« Ich versuchte, alle mir zu Gebote stehende Überzeugungskraft in meine Stimme zu legen. »Ich glaube nicht daran, daß Veritas tot ist.«
Wieder richtete ich den Blick auf König Listenreich. »Glaubt Ihr es? Glaubt Ihr, Euer Sohn könnte gestorben sein, und Ihr hättet nichts gespürt?«
»Chivalric… ist so von mir gegangen. Wie ein ersterbendes Flüstern. ›Vater‹, sagte er, glaube ich. ›Vater‹.«
Stille senkte sich in das Zimmer. Ich wartete, neben seinem Stuhl kauernd, auf die Entscheidung meines Königs. Langsam erhob sich seine Hand, wie von einem eigenen Willen beseelt. Sie überwand die geringfügige Entfernung zwischen uns und legte sich auf meine Schulter. Das war alles. Nur das Gewicht von des Königs Hand auf meiner Schulter. Listenreich bewegte sich, sein Atemzug klang wie ein Seufzen.
Ich schloß die Augen, und wir tauchten wieder in den eiligen schwarzen Fluß. Wie schon einmal, begegnete ich dem verzweifelten jungen Mann, der in König Listenreichs sterbendem Körper gefangen war. Zusammen trieben wir in der brausenden Strömung der Welt. »Niemand ist hier. Niemand ist hier, außer uns.« Listenreich hörte sich niedergeschlagen und einsam an.
Ich konnte mich nicht finden. Ich besaß hier keinen Körper, keine Zunge. Er hielt mich fest in dem Tosen und den Strudeln. Ich war kaum imstande zu denken, erst recht nicht, mich an das Wenige zu erinnern, das mir von Galens brutalen Lektionen über den Gebrauch der Gabe im Gedächtnis geblieben war. Es war, als würde man versuchen, sich an eine auswendig gelernte Rede zu erinnern, während man erdrosselt wird. Ich gab auf. Ich gab alles auf. Dann kam von irgendwoher wie eine in einem Luftzug gaukelnde Feder oder ein im Sonnenlicht tanzendes Staubkorn Veritas Stimme herangetrieben, die mir sagte: »Offen sein, heißt einfach nur, sich nicht verschließen.«
Die ganze Welt war ein Ort ohne Raum, alle Dinge im Innern von allen anderen Dingen. Weder sprach ich seinen Namen aus, noch dachte ich an sein Gesicht. Veritas war da, war immer da gewesen, und mich mit ihm zu verbinden, ging wie von selbst. Du lebst!
Natürlich. Aber du nicht
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