Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
dann fuhr sie zu zwei Halbstarken herum, die sich an der Deichsel des Karrens lümmelten. »Und ihr Bengels hört gefälligst auf mit dem Unfug!« schimpfte sie. »Sie sind für des Königs Rund bestimmt, um dort Gnade oder Gerechtigkeit zu empfangen. Bis dahin aber laßt ihr sie in Ruhe, versteht ihr mich? Lily! Lily, bring die Knochen von dem Braten her und gib sie diesen Elenden! Und ihr verschwindet, weg da! Regt sie mir nicht auf!«
Die Burschen wichen lachend und mit abwehrend erhobenen Händen vor dem drohend geschwungenen Knüppel der Frau zurück. »Warum sollen wir uns nicht erst einen Spaß mit ihnen erlauben«, beschwerte sich der größere der beiden. »Es heißt, daß sie unten in Rundwall schon ihren eigenen Richterkreis bauen.«
Sein Kamerad rollte prahlerisch die Schultern. »Mich werdet ihr auch noch in des Königs Rund erleben«, meinte er.
»Als Recke oder als Gefangenen?« höhnte jemand, worauf beide Jungen lachten und der größere dem kleineren einen freundschaftlich gemeinten, derben Stoß versetzte. Ich lachte nicht mit, denn in mir keimte ein ungeheuerlicher Verdacht. Des Königs Rund. Entfremdete und Recken. Ich erinnerte mich, wie gebannt Edel zugesehen hatte, als seine Männer auf mich eindroschen. Eine dumpfe Betroffenheit ergriff von mir Besitz, während die Frau namens Lily mit einer Schüssel zum Karren ging und den Gefangenen Knochen mit etwas Fleisch daran vorwarf. Alle drei stürzten sich gierig darauf und kämpften knurrend und zähnefletschend um den größten Anteil. Nicht wenige der Feiernden standen um den Wagen, betrachteten das Schauspiel und lachten. Ich konnte es nicht fassen. Begriff man hier nicht, daß diese Männer Entfremdete waren? Kein Gesindel, sondern anständige Ehemänner und Söhne, Fischer und Bauern aus den Sechs Provinzen, deren einziges Verbrechen darin bestand, den Roten Korsaren in die Hände gefallen zu sein.
Ich wußte nicht, wie viele Entfremdete ich schon getötet hatte. Ich empfand Abscheu vor ihnen, ja, doch es war der gleiche Abscheu, den ich beim Anblick eines brandigen Beins empfand, oder wenn ich einen Hund sah, der so stark die Räude hatte, daß ihm nicht mehr zu helfen war. Entfremdete zu töten hatte nichts mit Haß zu tun oder mit Bestrafung oder Gerechtigkeit. Der Tod war für sie die einzig mögliche Heilung, ein so schneller und schmerzloser Tod wie nur möglich, aus Rücksicht auf die Familien, die um sie trauerten. Diese jungen Männer hatten geredet, als sollte ihr Sterben die Attraktion eines Jahrmarkts sein.
Langsam setzte ich mich wieder hin. Der Appetit war mir vergangen, obgleich der nüchterne Verstand mir riet zu essen, solange ich die Möglichkeit hatte. Ich starrte auf meinen Teller. Schließlich zwang ich mich, Brot und Fleisch hinunterzuwürgen.
Als ich einmal den Kopf hob, ertappte ich zwei junge Burschen dabei, daß sie mich musterten. Einen Augenblick hielt ich ihrem Blick stand, dann fiel mir ein, welche Rolle ich hier spielte, und ich schlug die Augen nieder. Offenbar glaubten sie, sich mit mir einen Spaß machen zu können, denn sie kamen anstolziert und setzten sich, einer mir gegenüber, der andere unangenehm dicht neben mich auf die Bank. Letzterer zog zur Belustigung seines Kameraden eine übertrieben angewiderte Grimasse und hielt sich die Hand vor Mund und Nase. Ich wünschte beiden einen guten Abend.
»Für dich scheint es ein guter Abend zu sein. Hast dir wohl lange nicht mehr ordentlich den Bauch vollschlagen können, stimmt’s?« Die freundlichen Worte kamen von meinem Gegenüber, einem Rotschopf mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht.
»Das ist wahr, und ich danke eurem Capaman für seine Großzügigkeit«, antwortete ich bescheiden und hoffte auf eine Möglichkeit, mich ohne Aufsehen zu erregen aus dieser Situation zu befreien.
»So, so. Und was führt dich nach Poma?« wollte der andere wissen. Er war größer als sein dreister Freund und kräftiger.
»Die Suche nach Arbeit.« Ich erwiderte unbefangen den Blick seiner fahlen Augen. »Man hat mir gesagt, in Fierant gäbe es einen Gesindemarkt.«
»Und für welche Arbeit bist du denn wohl zu gebrauchen? Als Vogelscheuche? Oder treibst du vielleicht mit deinem Gestank die Ratten aus?« Er stemmte vor meiner Nase den Ellenbogen auf die Tischplatte und stützte sich darauf, um mir die Wölbung seines Bizeps vorzuführen.
Ich atmete tief ein und aus, einmal, zweimal. In mir erwachte etwas, das ich seit geraumer Zeit nicht mehr gespürt hatte.
Weitere Kostenlose Bücher