Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
stehenblieb, als hätte er Angst. Dann kam er in plötzlicher Hast heran. Sein weißer Umhang flatterte im Nachtwind. Er stand vor mir, groß und schmal und stumm. »Ich bin zu dir gekommen«, flüsterte ich. Plötzlich kniete er neben mir nieder, und ich konnte einen Blick auf das geschnitzte Elfenbein seines Gesichts werfen. Er legte die Arme um mich und erhob sich mit mir, um mich wegzutragen. Die Bewegung und der Druck auf meinen Rücken waren zuviel. Ich verlor die Besinnung.
Wärme durchströmte mich und in ihrem Gefolge Schmerz. Ich lag ausgestreckt auf der Seite, in einem Haus, denn ich hörte den Wind, doch ich spürte ihn nicht. Gerüche: Tee und Weihrauch, Farbe und Holzspäne und die Wolldecke, auf der ich lag. Mein Gesicht brannte. Ich konnte nicht aufhören zu zittern, obwohl jeder einzelne Schauer den Schmerz in meinem Rücken weckte. Meine Hände und Füße pochten.
»Der Knoten in deiner Umhangkordel ist gefroren. Ich werde sie durchschneiden. Halt still.« Die Stimme klang eigenartig sanft, als wäre sie an einen solchen Ton nicht gewöhnt.
Es gelang mir, die Augen aufzuschlagen. Ich lag auf dem Boden, mit dem Gesicht zu einem gemauerten Herd, in dem ein Feuer brannte. Jemand beugte sich über mich. Das Blinken einer Klinge näherte sich meiner Kehle, aber ich war unfähig, mich zu rühren. Ich fühlte die sägende Bewegung, hätte aber nicht sagen können, ob sie in mein Fleisch schnitt. Dann wurde mein Umhang nach hinten gezogen. »Er ist an deinem Hemd festgefroren«, murmelte die Stimme. Fast glaubte ich, sie zu erkennen. Ein zischendes Atemholen. »Blut. All das ist gefrorenes Blut.« Mit einem reißenden Geräusch löste der Umhang sich vom Hemdstoff. Der Jemand setzte sich neben mir auf den Boden.
Ich fand nicht die Kraft, den Kopf zu heben, um in sein Gesicht zu schauen. Mein Blick erfaßte nur einen schlanken Körper in einem losen Gewand aus weißer Wolle. Hände in den Farben von altem Elfenbein rollten die Ärmel nach oben. Die Finger waren lang und dünn, die Handgelenke knochig. Dann erhob er sich abrupt, um etwas zu holen. Eine Zeitlang war ich allein. Ich schloß die Augen. Als ich sie wieder aufschlug, stand eine große blaue Keramikschale neben meinem Kopf. Der Dampf, der daraus aufstieg, roch nach Weidenrinde und Eberesche.
»Keine Angst«, sagte die Stimme, und eine dieser Hände legte sich beruhigend auf meine Schulter. Gleich darauf spürte ich eine sich ausbreitende Wärme an meinem Rücken.
»Es blutet wieder«, flüsterte ich.
»Nein. Ich weiche das Hemd auf, um es von der Wunde lösen zu können.« Wirklich, die Stimme klang vertraut. Meine Lider sanken herab. Das Öffnen und Schließen einer Tür, und ein kalter Luftzug strich über mich hinweg. Der Mann neben mir hielt inne und hob den Kopf. »Du hättest anklopfen können«, sagte er mit gespieltem Ernst. »Selbst einer wie ich hat gelegentlich andere Gäste.«
Leichte, eilige Schritte, das Wehen von Röcken, die sich auf dem Boden ausbreiteten, als die Frau niedersank. Eine Hand strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Wer ist er, heiliger Mann?«
»Heiliger Mann?« In der Stimme schwang sarkastische Belustigung. »Hier haben wir jemanden, der vielleicht nie wieder ein heiler Mann sein wird. Sieh dir seinen Rücken an.« Leiser fügte er hinzu: »Wer er ist – ich weiß es nicht.«
Ich hörte sie einen erschreckten Laut ausstoßen. »Soviel Blut! Wie kommt es, daß er noch lebt? Wir müssen ihn wärmen und das Blut abwaschen.« Sie zog an meinen Handschuhen und zerrte sie herunter. »Oh, seine armen Hände! Die Finger sind alle schwarz an den Spitzen!«
Das wollte ich nicht sehen und nicht wissen. Ich ließ mich in die Tiefe sinken.
Eine Weile kam es mir vor, als wäre ich wieder ein Wolf. Ich streifte durch ein Dorf, das mir fremd war, auf der Hut vor Hunden oder Menschen in den Gassen, doch es herrschte tiefe, schneegedämpfte Stille, und das einzige, was sich in der Nacht bewegte, waren die aus der Dunkelheit niedersinkenden Flocken. Ich fand die Hütte, die ich suchte und strich um sie herum, doch wagte ich nicht, sie zu betreten. Endlich war mir, als hätte ich in einer Sache alles getan, was ich tun konnte, und ich ging auf die Jagd. Ich machte Beute, ich fraß, ich schlief.
Als ich erwachte, erfüllte trübe Helligkeit den Raum. Gewölbte Wände, gewölbte Decke – im ersten Augenblick glaubte ich, meine Augen spielten mir einen Streich, dann erkannte ich die charakteristische Form einer
Weitere Kostenlose Bücher