Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
und schleppte Äste herbei. Trotzdem dauerte es eine Ewigkeit, bis es mir gelang, dem Holz eine winzige Flamme zu entlocken, die ich behutsam mit Zapfenschuppen fütterte. Als das Feuer endlich brannte, merkte ich, daß der Morgen dämmerte. Zeit, daß wir uns auf den Weg machten. Wir verzehrten den Rest des Hasen und warteten, bis ich mir Hände und Füße gewärmt hatte. Dann brachen wir auf.
Kapitel 20
Jhaampe
Jhaampe, die Kapitale des Bergreichs, ist älter als Bocksburg, wie auch das Herrscherhaus der Chyurda auf eine längere Ahnenreihe zurückblickt, als das Geschlecht der Weitseher sie aufzuweisen hat. Von der Anlage her ist Jhaampe so grundlegend verschieden von der Festungsstadt Bocksburg wie die absoluten Monarchen der Sechs Provinzen von den Philosophenkönigen des Bergreichs, die sich als Diener ihres Volkes begreifen.
Im Bergreich findet man nicht die traditionelle Siedlungsform, also ein Konglomerat auf Dauer errichteter Behausungen einer mehr oder minder ortsfesten Bürgerschaft, sondern entlang sorgfältig geplanter und von Gärten gesäumter Straßen laden freie Plätze die nomadische Bevölkerung der Berge ein, nach Belieben zu kommen und zu gehen. Es gibt einen Marktplatz, aber die Händler folgen einander in einer Prozession gleich der der Jahreszeiten. Über Nacht wächst vielleicht ein Dutzend Zelte aus dem Boden, und ihre Bewohner vergrößern die Einwohnerzahl von Jhaampe für eine Woche oder einen Monat, nur um spurlos verschwunden zu sein, wenn die Zeit ihres Besuchs oder ihrer Geschäfte vorbei ist. Jhaampe ist der Nexus eines Nomadenvolks, ständiger Wohnsitz nur für wenige.
Die Behausungen der Herrscherfamilie und ihrer Getreuen, die aus freiem Entschluß das ganze Jahr über bei ihr ausharren, haben keinerlei Ähnlichkeit mit bei uns üblichen Gebäuden. Die Chyurda wählen zum Mittelpunkt eines ›Bauwerks‹ einen hohen, noch lebenden Baum, dessen Stamm und Äste über Jahrzehnte hinweg mit viel Sorgfalt und Geschick dazu herangebildet werden, Stützpfeiler, Dach und Wände eines Hauses zu sein. Dieses lebende Gerüst wird dann mit einem Gewebe aus Rindenbast überzogen und durch ein Holzgitter verstärkt. Das Gebäude erhält so die Form einer Tulpenknospe. Über die Bastbespannung kommt ein Bewurf aus Lehm, welcher dann mit einem glänzenden, harzigen Lack in den kräftigen Farben bemalt wird, die das Bergvolk liebt. Manche Gebäude sind mit phantasievollen Gestalten oder Mustern verziert, aber die meisten gefallen durch Schlichtheit. Rot- und Gelbtöne herrschen vor, und die Stadt leuchtet im Schatten der hohen Bäume wie ein Krokusfeld im Frühling.
In der Nachbarschaft dieser Tulipane und an den Straßenkreuzungen dieser fluktuierenden ›Stadt‹ liegen die Parks, jeder davon einzigartig. Mittelpunkt einer solchen Anlage kann ein ungewöhnlich geformter Stumpf sein oder ein Muster aus Steinen oder ein anmutig geschwungener Ast oder Stamm. Man findet in dem einen duftende Kräuter, in einem anderen ein Blumenmeer oder auch Pflanzen in bunter Vielfalt. Eine bemerkenswerte Anlage umgibt eine sprudelnde heiße Quelle. Hier gedeihen Pflanzen mit fleischigen Blättern und exotisch duftenden Blüten, Gäste aus wärmeren Gefilden, hier angesiedelt, um die Bergbewohner mit ihrer Fremdartigkeit zu entzücken. Oft lassen Besucher Geschenke in den Parks zurück, etwa eine Holzschnitzerei oder ein schönes Gefäß oder vielleicht nur ein Mosaikbild aus farbigen Kieseln. Die Parks gehören allen, und alle pflegen sie.
In Jhaampe findet man außer dieser einen noch weitere Thermen, von kochendheiß bis angenehm warm. Diese hat man eingefaßt und nutzt sie einmal als öffentliche Bäder, beziehungsweise zur Beheizung einiger der kleineren Tulipane. In jedem Haus, in jedem Park, hinter jeder Biegung findet der Besucher die ursprüngliche Schlichtheit von Farbe und Form, die das Ideal der Berge sind. Der vorherrschende Eindruck, den man bekommt, ist der von Harmonie und Freude an der Natur. Die bewußte Einfachheit des Lebens in Jhaampe mag den Besucher veranlassen, seine eigenen Maßstäbe und Prioritäten einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Es war Nacht. Irgendeine Nacht nach langen, schmerzensreichen Tagen. Auf meinen Stab gestützt, tat ich einen weiteren Schritt. Und noch einen und noch einen. Es war ein langsames, ein qualvoll langsames Vorwärtskommen. Dünnes Schneegeflitter in der Dunkelheit vexierte die Augen, und es gab kein Entrinnen aus dem launischen Wind, der
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