Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
und bewahrte es in meinem Herzen. Endlich erhielt ich die Antwort auf Fragen, an denen ich lange herumgerätselt hatte. Edel hatte unsere Flucht geahnt. Als Kettricken in ihre Gemächer zurückgekehrt war, hatte sie festgestellt, daß ihre sorgfältig zusammengestellte und verpackte Ausrüstung für die Reise verschwunden war, heimlich weggeschafft von Edels Spionen. Sie hatte Bocksburg mit wenig mehr als den Kleidern verlassen, die sie am Leib trug, und einem schnell gegriffenen Umhang. Ich erfuhr von dem schlechten Wetter in der Nacht ihrer Flucht. Sie hatte meine Stute Rußflocke geritten, und der Narr mußte sich den ganzen langen Weg mit dem eigensinnigen Rötel herumschlagen. Sie hatten Blauer See zum Ende der Winterstürme erreicht. Der Narr hatte sie beide ernährt und das Geld für die Überfahrt verdient, indem er sein Gesicht anmalte, sein Haar färbte und in den Straßen Gauklerkunststücke aufführte. In welcher Farbe er sein Gesicht geschminkt hatte? Weiß, natürlich. Wie besser die bleiche Haut verbergen, nach der Edels Spitzel Ausschau hielten?
Ihre Überfahrt war ruhig verlaufen. Sie hatten Mondesauge hinter sich gelassen und waren weiter in die Berge gereist. In Jhaampe eingetroffen, hatte Kettricken sofort von ihrem Vater zu wissen verlangt, was aus Veritas geworden war. Er war in der Tat durch Jhaampe gekommen, doch seither hatte man nichts mehr von ihm gehört. Kettricken hatte Reiter auf seine Spur gesetzt und sich auch selbst an der Suche beteiligt, doch sie mußte erleben, daß all ihre Hoffnungen zunichte wurden. Hoch oben in den Bergen waren die Suchtrupps auf den Ort eines Kampfes gestoßen. Der Winter und die Aasfresser hatten bereits ihr Werk vollbracht. Keiner der Toten war mehr zu erkennen gewesen, doch man hatte Veritas’ Standarte mit dem Bockswappen gefunden. Die zurückgelassenen Pfeile und die von einem Schwertstreich zerschlagenen Rippen eines Leichnams sprachen dafür, daß sie menschlichen Feinden und nicht Tieren oder den Elementen zum Opfer gefallen waren. Weil die Knochen überall verstreut lagen, war es schwierig gewesen, die genaue Anzahl der Toten zu bestimmen. Kettricken hatte gehofft, bis man ihr einen Umhang gebracht hatte, von dem sie sich erinnern konnte, ihn für Veritas eingepackt zu haben. Mit eigener Hand hatte sie den Bock auf den Brustschild gestickt. Unter dem Umhang lagen modernde Knochen und Stoffreste. Kettricken hatte ihren Gemahl als einen Toten beweint.
Die nächsten Monate hatte sie in einem Wechsel zwischen tiefer Trauer und Grimm über Edels Intrigen gelebt. Sie war entschlossen gewesen, Veritas’ Sproß auf dem Thron der Sechs Provinzen zu sehen und das Volk von der Tyrannei befreit. Diese Pläne hatten ihr Trost und Kraft gespendet, bis ihr Kind tot zur Welt gekommen war. Der Narr hatte sie seither kaum zu Gesicht bekommen. Manchmal erging sie sich in den winterlichen Gärten, eine hohe, einsame Gestalt, bleich und kalt wie der Schnee auf den Beeten.
In seinen Bericht eingeflochten waren kleine Nebensächlichkeiten, über die ich mich dennoch freute. Rußflocke und Rötel ging es beiden gut. Rußflocke trug ein Fohlen von dem jungen Hengst, trotz ihrer fortgeschrittenen Jahre. Ich schüttelte mißbilligend den Kopf. Edel hatte sein Möglichstes getan, um einen Krieg zu provozieren. Von den marodierenden Räuberbanden, die das Bergvolk neuerdings plagten, munkelte man, daß sie in seinem Sold standen. Getreidelieferungen, bereits bezahlt, waren nie angekommen, Kaufleuten aus den Bergen wurde die Einreise in die Sechs Provinzen verweigert. Etliche kleine Siedlungen in Grenznähe waren geplündert und niedergebrannt worden; es gab keine Überlebenden. König Eyod, sonst ein Philosoph, war aufs äußerste ergrimmt. Zwar verfügten die Chyurda nicht über ein stehendes Heer, doch es gab keinen Bewohner des Bergreichs, der nicht bereit gewesen wäre, auf ein Wort seines Herrschers hin zu den Waffen zu greifen.
Der Narr konnte mir auch Neuigkeiten aus der Heimat berichten, besonders über Philia, die erstaunliche Herrin von Bocksburg. Sie tat, was in ihrer Macht stand, um die Küste der Marken zu verteidigen. Geld war rar, aber die Bevölkerung gab ihr, was man ›Philias Quentchen‹ nannte, und sie verteilte es nach bestem Wissen und Gewissen an ihre Soldaten und Matrosen. Bocksburg war noch nicht gefallen, obwohl die Piraten mittlerweile entlang der ganzen Küste der Sechs Provinzen Stützpunkte besaßen. Den Winter über herrschte eine nur von
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