Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
aus dem Lied, du unwissender Welpe! Den kein weiser Mann hinaufsteigt und erwartet, wieder heil hinunterzukommen!«
Mir lief ein Schauer über den Rücken. In meinem Leben ist es einige Male vorgekommen, daß mir eine symbolische Wahrheit allen verhüllenden Beiwerks entkleidet in ihrer furchterregenden Nacktheit entgegengetreten ist. Wie jetzt. Krähe hatte mir vor Augen gehalten, was ich im Hintergrund meines Bewußtseins seit Tagen ahnte.
»Die weisen Männer waren Gabenkundige, nicht wahr?« fragte ich leise. »Sechs und fünf und vier – Kordialen und die Überbleibsel von Kordialen...« Mein Verstand stürmte die Treppe der Logik hinauf und ersetzte dabei die meisten Stufen durch Intuition. »Das ist also aus den Gabenkundigen geworden, den alten, die wir nicht finden konnten. Als Galens Kordiale sich nicht bewährte, und als Veritas mehr Hilfe brauchte, um die Marken zu verteidigen, suchten er und ich nach älteren Gabenkundigen, solchen, die noch von Solizitas ausgebildet worden waren, bevor Galen Gabenmeister wurde. Wir hatten Mühe, wenigstens einige Namen zu finden, und sie waren alle entweder gestorben oder verschwunden. Wir argwöhnten Verrat!«
Krähe schnaubte. »Verrat wäre in Kordialen nichts Neues gewesen. Doch meistens geschah etwas anderes. Je tiefer die Kundigen in das Mysterium der Gabe eindrangen, desto empfänglicher wurden sie für ihre Schwingungen, bis irgendwann die Gabe sie rief. War man stark genug, konnte man die Reise auf dieser Straße überleben. Wenn nicht, war man verloren.«
»Und wenn man Erfolg hatte?« fragte ich.
Krähe schaute mich aus den Augenwinkeln heraus an, sagte jedoch nichts.
»Und was befindet sich am Ende dieser Straße? Wer hat sie gebaut? Wohin führt sie?«
»Veritas«, antwortete sie endlich ruhig. »Sie führt zu Veritas. Du und ich, wir brauchen nicht mehr zu wissen als das.«
»Aber du weißt mehr!« warf ich ihr vor. »Und ich auch. Sie führt außerdem zum Ursprung aller Magie.«
Ein Ausdruck der Bestürzung flog über ihr Gesicht, dann wurde es hart. »Ich weiß gar nichts«, wehrte sie schroff ab, um nach kurzem Besinnen versöhnlicher hinzuzufügen: »Natürlich denkt man sich seinen Teil, und man hört dies und das. Sagen, Prophezeiungen, Gerüchte. Damit erschöpft sich mein Wissen.«
»Und wie kommt es, daß du das alles weißt?«
Sie wandte den Kopf und betrachtete mich mit festem Blick. »Weil es mir bestimmt ist. Wie auch dir.«
Das war ihr letztes Wort in dieser Sache. Statt auf meine Fragen einzugehen, beschrieb sie mir verschiedene Spielsituationen, und ich mußte sagen, welche Züge ich machen würde, mit einem schwarzen, einem roten oder einem weißen Stein. Ich gab mir Mühe, weil ich wußte, sie wollte mir helfen, mich nicht zu verlieren, aber die Macht dieser Straße ließ sich so wenig ignorieren wie ein starker Wind oder eine eisige Strömung. Ich konnte mir vornehmen, nicht darauf zu achten, aber deshalb war das Phänomen nicht verschwunden. Während ich über mögliche Züge nachgrübelte, wunderte ich mich plötzlich über das Muster meiner eigenen Gedanken und glaubte, es seien nicht meine eigenen, sondern die eines Fremden, an denen ich auf irgendeine Art teilhatte. Auch wenn ich mir das Spiel vor Augen hielt, brachte das nicht den Chor der raunenden Stimmen im Hintergrund meines Bewußtseins zum Schweigen.
Die Straße wand sich in Serpentinen den Berg hinauf, Linker Hand ging es jäh in die Höhe, rechter Hand ebenso steil hinunter. Kein vernünftiger Baumeister hätte die Hoffart besessen, dem Berg seinen Willen aufzwingen zu wollen. Die meisten Handelswege folgten dem Gelände und verliefen entlang der einfachsten Trasse. Dieser jedoch eroberte unerschrocken die abweisende Felswand und brachte uns immer weiter hinauf. Als es dämmerte, waren wir ein erhebliches Stück hinter die anderen zurückgefallen. Nachtauge lief voraus und kehrte mit der Kunde zurück, man hätte einen geeigneten Lagerplatz gefunden und wäre nun dabei, die Jurte aufzubauen. Der böig auffrischende Abendwind war eisig. Ich freute mich auf Wärme und Rast und bat Krähe, sich zu sputen.
»Sputen?« fragte sie. »Du bist derjenige, der nicht von der Stelle kommt. Heb die Füße!«
Die letzte Etappe eines Weges erscheint immer am längsten. Diese Binsenweisheit hatte ich oft genug von den Soldaten in Bocksburg gehört. Und richtig, mir kam es vor, als müßte ich die Füße durch kalten Sirup ziehen, soviel Kraft erforderte jeder Schritt. Ich
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