Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Arme um mich legt und mich an sich drückt. Manchmal wünsche ich mir diese Dinge so sehr, daß ich die Roten Schiffe vergesse und Edel und – alles andere. Manchmal denke ich, wenn wir nur wieder vereint wären, würde alles andere auch wieder ins Lot kommen, irgendwie. Unziemliche Wünsche für ein Opfer, ich weiß. Es ist selbstsüchtig und...«
Ein Blinken wie von Mondlicht auf Silber zog meinen Blick an. Über ihre Schulter hinweg sah ich den schwarzen Pfeiler. Er lehnte halb über dem Abgrund, durch den Bergrutsch, der die Straße weggerissen hatte, seines halben Unterbaus beraubt. Ich hörte nicht, was Kettricken noch sagte. Wie kam es, daß ich ihn erst jetzt bemerkte? Eine wie von innen heraus leuchtende, kantige Säule aus schwarzem Stein, durchzogen von Adern glitzernden Kristalls. Ich dachte an Mondlicht auf den gekräuselten Wassern eines magischen Stroms. Auf den Flächen waren keinerlei Symbole oder Schriftzeichen zu entdecken. Der Wind heulte hinter mir, als ich die Hand ausstreckte und über den seidenglatten Stein gleiten ließ. Er hieß mich willkommen.
Kapitel 27
Die Stadt
Durch die Berge führt eine alte Handelsstraße, die keinen der großen und kleinen Orte des heutigen Bergreichs berührt. Teile dieses vergessenen Fernwegs entdeckt man noch so weit südöstlich wie am Ufer des Blauen Sees. Die Straße hat keinen Namen. Niemand erinnert sich, wer sie angelegt hat, und selbst die noch intakten Teilstrecken werden kaum benutzt. An manchen Stellen ist sie im Lauf der Jahre durch Frostschaden unpassierbar geworden; anderwärts haben Überschwemmungen und Erdrutsche ihr Zerstörungswerk vollbracht. Hin und wieder bricht ein unternehmungslustiger Bursche auf, um der Straße zu ihrem Ausgangspunkt zu folgen. Sofern die Abenteurer zurückkehren, haben sie beeindruckende Geschichten zu erzählen, von Ruinenstädten und felsigen Talkesseln, wo Schwefelquellen dampfen, und sie berichten auch von den unwirtlichen Landschaften, die die Straße durchschneidet. Kein Wild und schlechte Jagd, sagen sie, und nirgends steht geschrieben, daß einer von ihnen sich versucht gefühlt hätte, die Reise zu wiederholen.
Ich stolperte auf dem schneeglatten Pflaster und fiel auf die Knie. Langsam stand ich wieder auf. Dabei versuchte ich, mich zu erinnern, was geschehen war. Hatte ich mich betrunken? Die Übelkeit und das Schwindelgefühl sprachen dafür, nicht aber diese dunkel schimmernde, totenstille Stadt. Ich schaute mich nach allen Seiten um. Ein Blick genügte, um mir zu zeigen, daß ich auf einem freien Platz stand, im Schatten eines hochragenden Steinmonuments. Ich blinzelte, kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Das diffuse Zwielicht machte es mir unmöglich, mehr als eine Armeslänge weit zu sehen. Vergebens wartete ich darauf, daß meine Augen sich daran gewöhnten. Schließlich kroch mir die Kälte in die Knochen; deshalb machte ich mich auf und wanderte langsam durch die einsamen Straßen. Zuerst kehrte die mir zur zweiten Natur gewordene Wachsamkeit zurück, gefolgt von einer schwachen Erinnerung an meine Gefährten, die Jurte, die zerstörte Straße. Doch zwischen den verschwommenen Bildern und meinem Kniefall auf dem Marktplatz dieser Geisterstadt – nichts.
Ich schaute den Weg zurück, den ich gekommen war, Dunkelheit hatte die Straße hinter mir verschluckt, und meine Fußabdrücke wurden von den gemächlich niedersinkenden nassen Schneeflocken ausgefüllt. Wieder blieb ich stehen und hielt Umschau. Links und rechts der Straße die feuchtglänzenden Mauern von Gebäuden aus Stein. Das Licht verwirrte die Augen. Es kam von nirgendwoher und war gleichmäßig unzulänglich. Es gab keine tiefen Schatten oder besonders finstere Gassen, doch andererseits konnte ich auch nicht erkennen, wohin ich ging. Die Höhe und die Beschaffenheit der Bauwerke, die Endpunkte der Straßen blieben buchstäblich im Dunkeln.
Ich fühlte Panik in mir aufsteigen und rang sie nieder. Die Empfindungen, die mich bestürmten, gemahnten mich allzu lebhaft daran, wie man mich in Edels Residenz mit Blendwerk in die Irre geführt hatte. Ich fürchtete mich, mit der Gabe hinauszugreifen, um nicht irgendwo auf Wills üble Witterung in der Stadt zu stoßen. Doch wenn ich arglos weiterging, im Vertrauen darauf, daß keine böse Absicht hinter all dem lauerte, tappte ich womöglich in eine Falle. Im Windschatten einer Mauer machte ich halt, zwang mich zur Ruhe und zum vernünftigen Nachdenken; aber noch immer fand ich
Weitere Kostenlose Bücher