Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
in meinem Gedächtnis keine Antworten auf die Fragen, wie ich hierhergekommen war, vor wie langer Zeit und warum. Leere in meinem Kopf. Ich spürte mit der Alten Macht nach meinem Wolf, doch nahm ich nicht die geringste Spur von Leben wahr. Befand sich wirklich kein lebendes Wesen in der Nähe oder ließ mein spezieller Sinn mich im Stich? Auch das konnte ich mir nicht beantworten. Wenn ich lauschte, hörte ich nur den Wind. Meine Nase roch nur feuchten Stein, frischen Schnee und die Nähe eines Flusses. Wieder drohte Panik mich zu übermannen, und ich lehnte mich gegen die Mauer.
Schlagartig erwachte die Stadt um mich zum Leben. Ich stellte fest, daß ich an der Außenwand einer Schänke lehnte. Die Töne eines schrillen Blasinstruments drangen auf die Straße heraus und Stimmen, die ein mir fremdes Lied sangen. Ein Wagen rumpelte die Straße hinunter. Ein junges Pärchen huschte an der Einmündung meiner Gasse vorbei; beide lachten. Es war Nacht in der rätselhaften Stadt, aber sie schlief nicht. Ich ließ den Blick zu der unglaublichen Höhe der wunderlich von schlanken Turmspitzen gekrönten Gebäude wandern und sah in den oberen Stockwerken Lichter brennen. Irgendwo weit weg rief ein Mann jemandem etwas zu.
Das Herz schlug mir bis zum Hals. Was war los mit mir? Ich biß die Zähne zusammen und nahm mir vor, über diesen merkwürdigen Ort soviel herauszufinden wie möglich. Nachdem ein weiterer, mit Bierfässern beladener Wagen an meiner Gasse vorbeigerollt war, stieß ich mich von der Mauer ab und trat einen Schritt vor.
Im selben Augenblick herrschte ringsum wieder Stille, schneehelle Dunkelheit. Verstummt Gesang und Lachen aus dem Wirtshaus, kein Mensch auf der Straße. Ich stahl mich vorsichtig zur Einmündung und spähte in beiden Richtungen die breitere Straße entlang. Nichts. Nur lautlos fallender nasser Schnee. Wenigstens, sagte ich mir, war es hier wärmer als oben in den Bergen. Selbst wenn ich die ganze Nacht im Freien verbringen mußte, würde ich nicht allzusehr leiden.
Ich machte mich ernsthaft daran, die Stadt zu erkunden. An jeder Kreuzung wählte ich die breitere Straße und erkannte sehr bald eine Regelmäßigkeit: Es ging sanft, aber stetig bergab. Der Geruch vom Fluß her wurde stärker. Einmal setzte ich mich, um auszuruhen, auf die Einfassung eines großen runden Beckens, das vielleicht einst ein Brunnen gewesen war oder ein Waschplatz. Sofort erwachte die Stadt wieder zum Leben. Ein Reiter kam und tränkte sein Pferd so dicht neben mir, daß ich ihn hätte berühren können. Er nahm mich nicht zur Kenntnis; doch ich bemerkte die Fremdartigkeit seiner Kleidung und die eigenartige Form des Sattels, den sein Pferd trug. Ein Trupp Frauen ging an mir vorbei, plaudernd und lachend. Gekleidet waren sie in lange, fließende Gewänder, die beim Gehen um ihre Knöchel flatterten. Allen fiel das blonde Haar bis auf die Hüften, und ihre Stiefel hallten auf dem Straßenpflaster. Als ich aufstand, um sie anzusprechen, verschwanden sie und das Licht mit ihnen.
Noch zweimal weckte ich die Stadt, bevor ich merkte, es brauchte nur die Berührung meiner Hand an einer der kristallgeäderten Mauern. Ich mußte all meinen Mut zusammennehmen; doch während ich meinen Weg fortsetzte, strich ich mit den Fingerspitzen an den Mauern der Häuser entlang, und die Vergangenheit erlebte ihre Wiederauferstehung. Es war Nacht, und noch immer fiel lautlos der Schnee, in dem die vorüberfahrenden Wagen keine Räderspuren hinterließen. Ich hörte das Schlagen von Türen, die längst vermodert waren, und sah Passanten gelassen über eine tiefe Rinne hinweggehen, die ein heftiger Wolkenbruch ausgewaschen hatte. Es fiel schwer, sie alle als Geister zu betrachten, wenn sie sich gegenseitig Begrüßungen zuriefen. Ich war in ihrer Welt das Phantom, das unbeachtet und unsichtbar vorüberglitt.
Zu guter Letzt gelangte ich an einen breiten schwarzen Fluß, der unter dem Sternenhimmel behäbig dahinströmte. An schemenhaft erkennbaren Kais schaukelten Boote und Kähne, und weiter zur Mitte hin, im tieferen Wasser, ankerten zwei Anderthalbmaster. An Deck der beiden Schiffe brannten Laternen. Fässer und Ballen warteten am Ufer darauf, verladen zu werden. In einem Torbogen war ein Glücksspiel im Gange, und jemandes Ehrlichkeit wurde von mehreren Stimmen lautstark in Frage gestellt. Die Leute kleideten sich anders als die Flußschiffer und die Hafenkanaille in den Marken, und die Sprache klang mir fremd in den Ohren, aber in
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