Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
mehr, schon seit geraumer Zeit nicht.« Ihre blauen Augen forschten in meinem Gesicht. »Was denkst du, hat Veritas getan, als er hier ankam und sah, was sich ereignet hatte?«
Ich überlegte einen Augenblick. »Er ist ein nüchtern denkender Mann. Dieser andere, zweite Punkt scheint nicht mehr als drei oder vier Tage von hier entfernt zu sein. Wie ich ihn kenne, wird er sein Glück zuerst dort versuchen. Und der dritte Punkt ist, hm, vielleicht weitere sieben Tagesmärsche entfernt. Er dürfte sich überlegt haben, daß es klüger wäre, erst an diesen beiden Orten zu suchen. Dann, falls dort keine Spur der Uralten zu finden ist, kann er immer noch umkehren und versuchen, von hier einen Weg ins Tal zu finden, hinunter zu – was immer dort sein mag.«
Kettricken runzelte die Stirn. Ich mußte daran denken, wie glatt und weiß diese Stirn gewesen war, als sie damals als junge Braut in Bocksburg eingezogen war. Nun hatten Sorge und Kummer Spuren in ihr Gesicht gegraben. »Er ist seit langem fort, mein Gemahl, doch wir haben nicht sehr lange gebraucht, um bis hierher zu kommen. Vielleicht ist er noch nicht wieder zurückgekehrt, weil er dort unten ist. Weil er so lange gebraucht hat, um einen gangbaren Weg nach unten zu finden.«
»Vielleicht«, gab ich zu. »Doch bedenkt, daß wir gut ausgerüstet und zu mehreren sind. Nach allem, was wir wissen, mußte er sich allein durchschlagen und hatte wahrscheinlich nur wenig Proviant bei sich.« Ich behielt für mich, daß ich glaubte, daß Veritas in jenem letzten Gefecht eine Verwundung davongetragen hatte. Weshalb Kettrickens Leid noch vergrößern? Ich fühlte, wie ein Teil von mir gegen meinen Willen zu Veritas hinausgriff. Ich schloß die Augen und zog mich hinter meine Mauern zurück. Hatte ich mir das eingebildet? Eine Verunreinigung in dem Gabenstrom, der allzu vertraute Anhauch einer böswilligen Macht? Ich verstärkte die Schutzwehren.
»... uns teilen?«
»Ich bitte um Vergebung, Majestät«, entschuldigte ich mich beflissen.
Ich konnte nicht sagen, ob ihr Blick Unmut ausdrückte oder Furcht. Sie nahm meine Hand und hielt sie fest. »Hör mir zu«, befahl sie. »Ich sagte, morgen werden wir einen Weg nach unten suchen. Wenn sich irgend etwas findet, das vielversprechend aussieht, versuchen wir den Abstieg. Doch ich denke, wir sollten für die Suche nicht mehr als drei Tage veranschlagen. Finden wir nichts, setzen wir unseren Weg fort. Als Alternative bietet sich an, daß wir uns teilen und...«
»Das halte ich für keinen guten Einfall«, warf ich hastig ein.
»Wahrscheinlich hast du recht«, gab sie nach. »Aber es dauert so lange, so furchtbar lange, und ich habe so lange allein mit mir beratschlagen müssen.«
Dazu wußte ich nichts zu sagen. Deshalb tat ich so, als nähme es meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, Nachtauges Fell zu zerzausen.
Mein Bruder. Es war ein Flüstern, nicht mehr, doch ich sah zu ihm hinunter und legte die Hand auf seinen Nacken, um das Band zu stärken. Du warst so leer wie ein gewöhnlicher Mensch. Ich konnte dich nicht erreichen.
Ich weiß. Ich kann dir nicht sagen, was mit mir geschehen ist.
Ich kann es. Du bewegst dich immer weiter von einer Seite weg zur anderen. Einmal wirst du dich so weit entfernt haben, daß es keine Rückkehr mehr gibt. Ich hatte Angst, es wäre bereits geschehen.
Was meinst du damit, meine Seite und die andere Seite?
»Kannst du den Wolf wieder hören?« fragte Kettricken mich erwartungsvoll. Als ich aufblickte und sie anschaute, war ich verblüfft zu sehen, wie besorgt sie mich musterte.
»Ja. Wir sind wieder verbunden«, sagte ich. Mir kam ein Gedanke. »Woher habt Ihr gewußt, daß wir uns nicht mehr hören konnten?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich nahm es an. Er wirkte verstört, und du schienst von uns allen so weit entfernt zu sein.«
Sie verfügt über die Alte Macht. Habe ich recht, meine Königin?
Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ihre Gedanken sich berührten. Ein einziges Mal, vor langer Zeit, in Bocksburg noch, hatte ich geglaubt zu spüren, daß Kettricken sich der Alten Macht bediente. Die Möglichkeit, daß sie es auch jetzt tat, bestand durchaus, weil mein eigener Sinn dafür in einer Weise gemindert war, daß ich kaum mein eigenes Brudertier wahrnehmen konnte. Nachtauge hob den Kopf, um sie anzusehen, und sie erwiderte unverwandt seinen Blick. Nachdenklich erklärte sie: »Manchmal wünsche ich mir, ich könnte mit ihm sprechen, wie du es tust. Mit einem solchen
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