Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
mit ihrer Nacktheit zu tun hatte. »Du kennst die Tüchtigkeit seiner Fährtenleser. Dennoch schickst du eins deiner Mädchen bis zu seiner Türschwelle, mit einem Schreiben von deiner eigenen Hand, um ihn zu warnen?«
»Ich hielt es nicht für gut, eine solche Nachricht zurückzuhalten.«
Chade strich über seinen kurzen Kinnbart. »Als ich dich um Unterstützung bat, hast du mir gesagt, du arbeitest für klingende Münze, nicht für das Vaterland. Du hast gesagt, für einen Pferdedieb ist eine Seite der Grenze so gut wie die andere.« .
Die Frau streckte sich und rollte die Schultern. Dann trat sie dicht an Chade heran und legte mit einer Geste ruhiger Selbstverständlichkeit die Hände auf seine Hüften. Ihrer beider Augen befanden sich fast auf gleicher Höhe. »Vielleicht hast du mich davon überzeugt, daß es auch noch eine dritte Seite gibt – deine.«
Seine grünen Augen funkelten. »Habe ich das?« murmelte er und zog sie an sich.
Ich erwachte mit einem Ruck und wälzte mich unbehaglich hin und her. Einerseits schämte ich mich, Chade bespitzelt zu haben, und andererseits beneidete ich ihn. Ich stocherte ein wenig in meinem Feuer und legte mich wieder hin. Auch Molly mußte allein schlafen, bis auf die kleine Wärme unserer Tochter neben sich. Es war ein schwacher Trost, und den Rest der Nacht schlief ich unruhig.
Als ich die Augen wieder aufschlug, lag auf mir ein Quadrat wäßrigen Sonnenlichts, das durch das Fenster strömte. Mein Feuer war erloschen bis auf etwas Glut unter der Asche; aber dennoch fror ich nicht sonderlich. Im Tageslicht wirkte der Raum, in dem ich mich befand, niederschmetternd. Ich warf einen Blick ins Nebenzimmer, auf der Suche nach einer Treppe zu den oberen Stockwerken, von wo aus ich hoffte, einen besseren Ausblick über die Stadt zu haben; doch was ich fand, waren die morschen Überreste hölzerner Stufen, denen ich mich nicht einmal für einen kurzen Aufstieg anzuvertrauen wagte. Die feuchten, kalten Mauern und der Steinfußboden erinnerten mich an den Kerker von Bocksburg. Ich verließ den Laden und trat in einen Tag hinaus, der fast mild zu nennen war. Der Schnee der vergangenen Nacht verging und sammelte sich zu Wasserlachen. Ich nahm die Mütze ab und ließ den lauen Wind durch mein Haar streichen. Frühling, wisperte die Stimme der Hoffnung in mir. Eine erste Ahnung von Frühling liegt in der Luft.
Ich hatte erwartet, daß das Tageslicht die Phantombewohner der Stadt auslöschen würde, doch im Gegenteil, das Licht verlieh ihnen mehr Substanz. Schwarzer, von Quarzadern durchzogener Stein war als hauptsächliches Material beim Bau der Stadt verwendet worden. Ich brauchte nichts weiter zu tun, als ihn zu berühren, um die Stadt um mich herum zum Leben zu erwecken. Doch auch ohne das glaubte ich, schemenhafte Gestalten zu sehen, das Gemurmel ihrer Stimmen zu hören und ihr geschäftiges Hin und Her zu spüren. Ich wanderte eine Zeitlang durch die Straßen und hielt Ausschau nach einem hohen, möglichst gut erhaltenen Gebäude, das mir einen weiten Rundblick versprach. Im Hellen sah ich, daß der Verfall der Stadt erheblich weiter fortgeschritten war, als ich nach meinem nächtlichen Streifzug vermutet hatte. Kuppeldächer waren eingestürzt, Fassaden durchzogen von langen, grün bemoosten Rissen. Bei anderen Gebäuden waren die Außenwände zusammengefallen, so daß man die inneren Räume sehen konnte. Ihre Überreste hatten die Straße in ein Trümmerfeld verwandelt, durch das ich mir einen Weg suchen mußte. Wenige der höheren Gebäude hatten dem Verfall getrotzt; manche neigten sich aufeinander zu wie weinselige Zecher. Endlich entdeckte ich ein geeignetes Bauwerk, dessen hoher Turmhelm über seine Nachbarn hinausragte, und ich bog in die Straße ein, die mich aller Voraussicht nach dorthin führen würde.
Als ich das Gebäude erreichte, blieb ich erst einmal stehen und staunte. Ich fragte mich, ob es wohl ein Palast gewesen war. Gewaltige steinerne Löwen bewachten die Eingangsstufen. Die Außenmauern bestanden aus den gleichen schwarz schimmernden Quadern wie fast jedes Bauwerk in der Stadt, hier aber geschmückt mit aufgesetzten Figuren von Menschen und Tieren aus leuchtend weißem Stein. Durch den scharfen Kontrast von Weiß auf Schwarz und die Größe dieser Figuren wirkte der Anblick regelrecht überwältigend. Ein Hünenweib führte einen riesigen Pflug hinter einem Gespann gigantischer Ochsen. Ein geflügeltes Geschöpf, ein Drache vielleicht,
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