Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Pfeil, wie ein von kundiger Hand geschleuderter Dolch, wollte ich meinem Ziel entgegeneilen, um mein tödliches Werk zu vollbringen, unbelastet von Sorgen um Menschen, die meinem Herzen nahestanden. Versagte ich, nun, ich war längst tot, in jeder Hinsicht, die für mich zählte. Niemand würde dafür büßen müssen, daß ich es versucht hatte. Wenn ich bei dem Anschlag auf Edel den Tod fand – nun, das war es wert. Mein eigenes Leben war mir nur so lange wichtig, bis ich dem Edels ein Ende gesetzt hatte. Was danach geschah, berührte mich nicht.
Nachtauge regte sich, gestreift vom Fluß meiner Gedanken.
Hast du daran gedacht, was es mir tun würde, wenn du stirbst? fragte er mich.
Ich schloß für einen Augenblick die Augen. Ja, ich hatte daran gedacht. Was würde aus uns, wenn ich als Gejagter lebe?
Nachtauge verstand. Wir sind die Jäger. Keiner von uns taugt zum Hasen.
Nein. Deshalb muß ich ihn jagen, bevor seine Hunde den Hasen fangen.
Er akzeptierte mein Vorhaben allzu bereitwillig. Ich versuchte, ihm begreiflich zu machen, was ich plante und wie gefährlich es war. Ich wollte nicht, daß er mir blindlings folgte.
Ich werde Edel töten. Und seine Kordiale. Sie sollen büßen für das, was sie mir angetan, was sie mir genommen haben.
Edel? Das ist Fleisch, das wir nicht fressen können. Ich verstehe dieses Jagen von Menschen nicht.
Ich nahm mein Bild von Edel und verknüpfte es mit seiner Erinnerung an den Tierhändler, der ihn als Welpe gefangen hatte und mit einem Knüppel zu schlagen pflegte.
Nachtauge wog beides gegeneinander ab. Nachdem du mich aus seiner Gewalt befreit haltest, habe ich mich gehütet, ihm wieder über den Weg zu laufen. Was du tun willst, ist ebenso töricht, wie sich mit einem Stachelschwein anzulegen.
Ich kann nicht anders, Bruder.
Ich verstehe. So geht es mir mit Stachelschweinen.
Nachtauge verglich meinen Rachefeldzug gegen Edel mit seiner Schwäche für Stachelschweine. Ich stellte fest, daß ich die mir gesetzten Ziele mit weniger Gleichmut betrachtete. Einmal ausgesprochen, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, daß es eine Macht auf Erden gab, die imstande war, mich davon abzubringen. Und was war aus meinen großen Worten der letzten Nacht geworden, meinen Reden über ein selbstbestimmtes Leben? Nun, beruhigte ich meine innere Stimme, dafür war immer noch Zeit, sollte ich diese Abrechnung mit der Vergangenheit lebendig überstehen. Nicht, daß ich etwa unfähig war, mir eine Zukunft einzurichten, mich machte einfach nur die Vorstellung rasend, daß Edel sich in der Überzeugung sonnte, mich aus dem Weg geräumt und seinem Bruder Veritas den Thron geraubt zu haben. Rachedurst trieb mich an, schlicht und einfach. Wenn ich je von Furcht und Scham frei sein wollte, mußte ich meinen Plan durchführen.
Du kannst jetzt hereinkommen, lud ich Nachtauge ein.
Weshalb sollte ich das wollen?
Ohne den Kopf zu wenden, wußte ich, daß er bereits herangekommen war. Er setzte sich neben mich, dann spähte er ins Innere der Hütte.
Puh! Bei dem Gestank, mit dem ihr eure Höhlen erfüllt, ist es ein Segen, daß eure Nasen so erbärmlich schlecht sind.
Vorsichtig schob er sich über die Schwelle und begann eine akribische Untersuchung des Innenraums. Es war lange her, seit ich ihn als selbständiges Wesen gesehen hatte, nicht nur als Erweiterung meiner selbst. Inzwischen war er voll ausgewachsen und auf dem Höhepunkt seiner Kraft. Ein Unbeteiligter hätte wohl gesagt, er sei ein grauer Wolf; ich sah an ihm jede Färbung, die ein Wolf haben konnte. Dunkle Augen, dunkle Schnauze, lohfarben am Ansatz von Ohren und Kehle, das Fell durchsetzt mit steifen, schwarzen Stichelhaaren, besonders an Schultern und Flanken. Die Pfoten waren riesig und spreizten sich beim Laufen über Schnee zu wahren Tatzen. Sein Schwanz war ausdrucksvoller als das Gesicht mancher Frau; Zähne und Kiefer vermochten mühelos den Schenkelknochen eines Rehs zu knacken. Er bewegte sich mit der federnden, sparsamen Kraft eines vor Gesundheit strotzenden Tieres. Ihm nur zuzusehen war Balsam für mein Herz. Sobald seine Neugier einigermaßen gestillt war, ließ er sich neben mir nieder. Nach einer Weile streckte er sich aus und schloß die Augen. Hältst du Wache?
»Ich halte Wache«, versicherte ich ihm. Seine Ohren zuckten bei den gesprochenen Worten, dann sank er in einen sonnenseligen Schlummer.
Ich erhob mich leise und ging in die Hütte. Eine Bestandsaufnahme meiner Besitztümer nahm bemerkenswert wenig
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