Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
und Kettrickens Gesichter verrieten, daß sie nicht zum Schlafen gekommen waren. Den Narren schien der Vorfall am meisten mitgenommen zu haben. Er war blaß und still, und seine Hände zitterten. Wir hatten alle etwas Zeit gebraucht, um zur Besinnung zu kommen. Krähe hatte eine üppige Mahlzeit gekocht, und wir alle, ausgenommen der Narr, langten herzhaft zu. Er schien überhaupt keinen Appetit zu haben. Während die anderen nun um das Glutbecken saßen und sich meine Geschichte anhörten, lag er bereits in seinen Decken, den Wolf als Wärmespender neben sich. Mir kam es vor, als sei er am Ende seiner Kräfte.
Nachdem ich mein Abenteuer zum drittenmal erzählt hatte, bemerkte Krähe: »Eda sei Dank hattest du den Elfenrindentee getrunken, bevor du entführt wurdest, sonst hättest du wahrscheinlich den Verstand verloren.«
»›Entführt‹?« hakte ich nach.
Krähe runzelte die Stirn. »Du weißt, was ich meine.« Sie schaute in unser aller fragende Gesichter. »Durch den Wegweiser, oder was immer diese Pfeiler darstellen. Sie müssen irgend etwas damit zu tun haben.« Abwartendes Schweigen folgte ihren Worten. »Aber das ist doch offensichtlich. Er ist bei einem verschwunden und bei einem anderen wieder aufgetaucht. Er ist auf demselben Weg wieder zu uns zurückgekommen.«
»Aber weshalb ausgerechnet ich?« wandte ich ein.
»Weil du als einziger von uns für die Gabe empfänglich bist.«
»Sind die Wegweiser denn auch mit der Gabe erschaffen worden?« fragte ich rundheraus.
Krähe begegnete meinem Blick. »Ich habe mir den Wegweiser bei Tageslicht angesehen. Er ist aus schwarzem Stein gehauen, durchzogen von breiten Streifen aus glitzerndem Kristall. Wie die Mauern der Stadt, deiner Beschreibung nach. Hast du beide Pfeiler berührt?«
Ich überlegte. »Ja, ich glaube schon.«
Sie zuckte die Schultern. »Nun, da hast du’s. Ein von der Gabe durchdrungenes Objekt kann die Absicht seines Schöpfers speichern. Diese Pfeiler wurden errichtet, um das Reisen einfacher zu machen, für jene, die sich darauf verstanden, die Eingeweihten, die Kundigen.«
»Ich habe nie von dergleichen gehört. Woher weißt du das alles?«
»Ich ziehe lediglich Schlußfolgerungen aus dem Offensichtlichen, weiter nichts«, erklärte sie kategorisch. »Und jetzt gehe ich schlafen. Ich bin müde. Wir alle haben die ganze Nacht und den größten Teil des Tages damit verbracht, nach dir zu suchen und uns Sorgen um dich zu machen. Und wenn wir einmal ausruhen wollten, hörte dieser Wolf nicht auf zu heulen.«
Heulen?
Ich habe dich gerufen. Du hast nicht geantwortet.
Ich habe dich nicht gehört, oder ich hätte es versucht.
Ich hatte Furcht, kleiner Bruder. Mächte ergreifen von dir Besitz, versetzen dich an Orte, wohin ich dir nicht folgen kann, verschließen dein Bewußtsein gegen mich. Dies ist das erste Mal, daß ich mich in ein Rudel aufgenommen fühle. Doch wenn ich dich verliere, verliere ich auch das.
Du wirst mich nicht verlieren, versprach ich ihm und fragte mich im stillen, ob ich dieses Versprechen würde halten können.
»Fitz?« fragte Kettricken in aufforderndem Ton, wie um mich in die Wirklichkeit zurückzuholen.
»Ich bin hier«, beruhigte ich sie.
»Laß mich die Karte sehen, die du angefertigt hast.«
Ich zog das zusammengefaltete Stück Velin aus dem Hemd, während sie ihre eigene Landkarte ausbreitete. Es war schwierig, Übereinstimmungen zu finden, besonders, weil die Maßstäbe verschieden waren. Endlich gelangten wir zu der Ansicht, daß der Bereich, den ich von der Tafel im Kartenraum kopiert hatte, eine vage Ähnlichkeit mit einem Wegstück auf Kettrickens Karte aufwies.
»Hier«, sie deutete auf einen Punkt am Ende der dreifachen Gabelung, »das müßte die Stadt sein. Wenn das stimmt, dann haben wir auch diesen Punkt und diesen.«
Die Karte, die Veritas mit auf seine Queste genommen hatte, war eine Kopie des alten, verblaßten Originals in Kettrickens Hand gewesen. Auf diesem war der Weg, den ich jetzt bei mir die Gabenstraße nannte, eingezeichnet – aber ungenau, in den Bergen mitten im Nichts beginnend und ebenso abrupt an drei verschiedenen Punkten endend. Die Bedeutung dieser Endpunkte war ursprünglich auf der Karte angegeben gewesen, aber diese Eintragungen waren zu unleserlichen Tintenflecken verwischt. Nun hatten wir meine Skizze aus der Stadt, auf der ebenfalls diese Endpunkte eingezeichnet waren. Einer war die Stadt selbst gewesen. Jetzt ging es darum herauszufinden, was es mit den
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