Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
gepflasterten Gassen spärlicher wuchs. Eine breite, schnurgerade Bahn, ehemals vielleicht eine Prachtstraße oder ein Fernweg, prägte sich in das Grün und verschwand zwischen den Bäumen. Von Moos und Ranken dick ummantelte Erhebungen waren Mauerreste von Hütten und Krämerläden, die die Straße einst gesäumt hatten. Wo früher Herdfeuer gebrannt und die Hausbewohner sich zu Tisch gesetzt hatten, wuchsen nun Bäume. Der Narr entdeckte einen großen Steinklotz, kletterte hinauf und schaute sich nach allen Seiten um. »Es könnte einmal ein größerer Ort gewesen sein.«
Durchaus. Falls diese Straße der Handelsweg war, den ich in meiner Vision gesehen hatte, entsprach es der natürlichen Entwicklung, daß an jeder Kreuzung aus wahrscheinlich kleinen Anfängen ein Weiler oder ein Marktflecken entstand. Ich konnte mir das Treiben an einem hellen Frühlingstag vorstellen, wenn die Bauern frische Eier und Gemüse zum Markt brachten. Die Weber hängten ihre neuen Waren aus, um Käufer in Versuchung zu führen, und...
Für den Bruchteil einer Sekunde wimmelte der Platz um den Pfeiler vor Menschen. Die Vision begann und endete am Rand der Pflastersteine. Nur im Wirkungskreis des schwarzen Pfeilers lachten die Menschen und gestikulierten und feilschten. Ein Mädchen, gekrönt mit einem aus Ranken gewundenen Kranz, ging durch die Menge und blickte über die Schulter zu jemandem zurück. Ich schwöre, sie schaute mir in die Augen und zwinkerte. Dann glaubte ich, meinen Namen rufen zu hören, und wandte den Kopf. Auf einer Empore stand eine Gestalt in fließenden Gewändern, die mit schimmernden Goldfäden durchwoben waren. Auf dem Kopf trug sie eine vergoldete, hölzerne Krone, verziert mit kunstvoll geschnitzten und bemalten Hahnenköpfen und Schwanzfedern. Ihr Zepter war ein Flederwisch, doch sie führte es mit königlicher Gebärde, während sie der Menge irgendein Dekret verkündete. Die Menschen auf dem Platz grölten vor Lachen. Ich starrte wie gebannt auf ihre schneeweiße Haut und die farblosen Augen. Die Gestalt schaute mir genau ins Gesicht.
Merle gab mir eine Maulschelle von solcher Güte, daß mir der Kopf in den Nacken flog. Ich sah sie verdutzt an und schmeckte Blut in meinem Mund, wo ein Zahn die Wange innen aufgerissen hatte. Sie hob wieder die geballte Faust, und ich begriff, daß es keine Maulschelle gewesen war. Flugs bog ich mich nach hinten und hielt ihr Handgelenk fest, als der Schlag an meinem Kopf vorbei ins Leere ging. »Hör auf damit!« schrie ich wütend.
»Du hör auf!« stieß sie hervor. »Und sorg dafür, daß sie auch aufhört!« Sie wies zornig auf den schwarzen Block, wo der Narr in der kunstvollen Pose einer Statue erstarrt war. Er atmete nicht; er zuckte nicht mit der Wimper; aber dann kippte er vor meinen Augen von seinem Podest wie ein Stein.
Ich erwartete, daß er mitten im Fall einen Salto schlug und lachend auf den Füßen landete, wie so oft, wenn er mit seinen Kapriolen den Hof in Bocksburg entzückt hatte; doch er stürzte der Länge nach ins Gras und rührte sich nicht.
Einen Augenblick stand ich da wie angewurzelt, dann sprang ich an seine Seite. Ich schob ihm die Hände unter die Achseln und zerrte ihn weg von dem schwarzen Kreis und von dem schwarzen Stein, auf dem er gestanden hatte. Ein Impuls bewog mich, ihn in den Schatten zu schleifen und mit dem Rücken an den Stamm einer Eiche zu lehnen.
»Hol Wasser!« fuhr ich Merle an. Sie warf sich herum und lief zu den beladenen Jeppas.
Ich legte die Fingerspitzen an die Kehle des Narren und fühlte den gleichmäßigen Pulsschlag. Seine Augen waren nur halb geschlossen. Er lag da wie vom Blitz getroffen. Ich rief seinen Namen und tätschelte seine Wange, bis Merle mit dem Wasserschlauch kam. Ich ließ das kalte Naß über sein Gesicht fließen. Erst geschah nichts, dann japste er, stieß prustend Wasser aus und setzte sich mit einem Ruck auf. Seine Augen waren leer. Unsere Blicke begegneten sich, und er grinste breit. »Was für ein Gedränge und was für ein Tag! Es war die Verkündung von Realders Drachen, und er hatte versprochen, mit mir...« Plötzlich runzelte er die Stirn und schaute sich ratlos um. »Alles verblaßt, es verblaßt wie ein Traum und läßt kaum einen Schatten der Erinnerung zurück...«
Auf einmal waren auch Krähe und Kettricken bei uns. Merle sprudelte heraus, was geschehen war, während ich dem Narren half, etwas Wasser zu trinken. Als sie fertig war, zog Kettricken ein bedenkliches Gesicht,
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