Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
sich gewundenen Türmen aus silbernen und schwarzen Quadern, zu denen sich breite, überdachte Brücken spannten. Dazwischen reckten sich die viereckigen Mauern von hellgrauen, runenverzierten Gebäuden, die an Getreidespeicher erinnerten; in Wahrheit waren es Bücherhorte, bis unter das Dach mit Schriften, Rollen, Zeichnungen und sogar Steintafeln gefüllt. Durchbrüche mit Holzkunstwerken darin, gewaltige bunte Fensterfronten und Treppen nahmen diesen Klötzen die Schwere.
Es war eine Akademie, in der die Gelehrten ohne Unterlass an den Fertigkeiten der Albae forschten, wie man sie stärken und ausweiten konnte, um fähige Magier und Zauberkundige zu formen. So sehr die Albae allen anderen Völkern überlegen waren, fanden sich ganz selten starke Cîanai und Cîanoi unter ihnen.
Wie viele Gelehrte mögen darin leben? Drâcoràs vermutete nicht eine einzige Wache hier. Wozu auch? Es gibt in Dsôn nichts, wovor man sich fürchten muss. Außer den Ungetreuen. Seine Augen verengten sich für wenige Herzschläge. Und sie wiederum müssen uns fürchten.
»Knappe zwei Meilen«, schätzte Hëironî. »Auf den Nachtmahren werden sie uns kommen sehen.«
»Sollen sie doch. Niemand ahnt, was wir beabsichtigen, zumal« – Drâcoràs deutete auf das Tal und das kleine Dorf – »dort unten die Ungetreuen leben.«
»Aber sie gehören zur Akademie. Denkst du, der oberste Cîanoi wird nichts unternehmen?« Tólanôri kreuzte die Arme vor der Brust. »Wäre dies eine herkömmliche Stadt, hätte ich keinerlei Bedenken, doch was ist, wenn es so etwas wie eine magische Sicherung gibt?«
Drâcoràs richtete sich auf. Sie hat recht. »Wir laufen. Die Nacht ist zu hell. Wenn sie Ishînaia wirklich gefangen haben, können sie erahnen, dass es mehr als eine gibt, die den Kopf des letzten Infamen in Dsôn Faïmon jagt.« Er verfiel in leichten Dauerlauf. »Seid wachsam. Ich befürchte, dass es unsere härteste Prüfung wird.«
Die Inagsàri eilten durch das nächtliche Wèlèron und strebten auf das Dorf unterhalb der Akademie zu, ohne dass sie dabei Äste zerbrachen oder ein Geräusch von klappernden Waffen oder der Ausrüstung erklang.
Drâcoràs hatte durch die kurze Zeit bei Virssagòn Tricks erlernt, die er an seine Veteraninnen weitergab. Sicherlich konnten sie sich nicht mit ausgebildeten Meistermördern messen, aber ihre Kenntnisse genügten, um die Wurfgeschosse tödlich genau zu schleudern und die Schwerter unparierbar zu führen. Ihre Kenntnisse und Erfahrungen vom Schlachtfeld verbanden sich ausgezeichnet damit.
Nach ihrer Ankunft im Strahlarm der Gelehrten hatten sie sich umgehört. Rasch, schnell und hart hatten sie Sklaven herangeschafft und sie vernommen, danach umgebracht und verscharrt, bis sie endlich einen Hinweis auf Ishînaia erhalten hatten.
Und jener Hinweis führte sie zu einer kleinen Schülerin namens Marandeï, die ihnen nach Androhung von Schlägen und Verfolgung ihrer Familie zähneknirschend Beistand versprach. Da ihr Leib keinerlei Runen der Ungetreuen auf sich trug, wie sie sorgsam prüften, und Marandeï sowohl Inàste als auch dem Herrscherpaar aufrichtige Treue schwor, schenkten sie ihren Ausführungen zu einem großen Teil Glauben.
Es stellte sich heraus, dass Ishînaia ihrem sicheren Sinn für Ungetreue gefolgt war.
Marandeï erinnerte sich nach Drâcoràs’ Beschreibungen an den Besuch der vermissten Inagsàri und daran, dass sie öfter im Dorf unterwegs gewesen war. Es gäbe das Gerücht an der Akademie, ein Priester der Infamen befände sich dort als Gast und würde einen Schädel anbeten. Natürlich nicht, um das Getreide höher wachsen zu lassen, sondern um die Gabe der Magie genauer zu ergründen. Da man ihn nicht in der Akademie wissen wollte, wurde sein Quartier in der Siedlung aufgeschlagen.
Somit betrachteten die Inagsàri Shëidogîs’ fehlenden Schädel als gefunden.
Aber was mit Ishînaia geschehen war, wusste die Schülerin nicht zu sagen. Die Veteranin sei wie von einem Dämon verschlungen.
Drâcoràs wich tief hängenden Ästen aus und langte an den Gürtel, wo er die Maske mit dem Segen der Unauslöschlichen aufbewahrte. Welche schreckliche Art von Zauberei! Er sah die Lichter der Akademie herannahen. Wir werden sie beenden, ganz gleich, was die Cîanoi sagen. Wir sind die Inagsàri und erfüllen den Willen der Unauslöschlichen.
»Masken auf«, befahl er leise und zog die seine über das Antlitz; dann nahm er das Schwert aus der Scheide, das wie alle Waffen seiner
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