Die Legenden der Albae: Tobender Sturm (Die Legenden der Albae 4) (German Edition)
zu Gesicht.
»Ich ersuche dich, mir zu folgen.« Seine Augen waren aufmerksam auf sie gerichtet, die Züge wirkten hart. Er würde keine Widerworte und Ausflüchte gelten lassen. »Shôtoràs schickt mich.«
»In welcher Angelegenheit?« Sie mühte sich, gleichgültig zu wirken, während es in ihr arbeitete.
»Ich habe den Auftrag, dich zum Regenten zu begleiten. Mehr muss ich nicht wissen.« Er gab die Tür frei, was eine deutliche Aufforderung war.
Irïanora verzichtete auf weitere Spielchen und ging neben dem Krieger her; dabei trank sie den Wein aus und drückte das leere Glas der wartenden Zelája in die Hand.
»Richte das Abendbrot für kurz nach Sonnenuntergang«, befahl sie im Vorbeigehen. Man sollte denken, dass sie unbekümmert war.
Sie verließen das Haus, marschierten durch die streng angeordneten Straßen und gelangten über die Brücke in den zweiten, größeren Teil von Dsôn Dâkiòn. Hier lebte die Mehrheit der Bewohner.
In Irïanoras Bezirk hingegen standen einige Gebäude leer, seit viele Albae mit Modôia nach Elhàtor gezogen waren. Der Nachwuchs reichte nicht aus, um die Lücken zu schließen und das alte Leben zurückzubringen.
Irïanora nutzte den Spaziergang, den sie so langsam wie möglich gestaltete, um ihre Heimat im leuchtenden Sonnenschein zu betrachten.
Durch die Lage auf dem Berg mit seinen unüberwindbaren Steilhängen, über denen sich Dâkiòn erhob, war die Stolze uneinnehmbar. Das nahm Irïanora fest an, während sie über die Kluft zwischen Ober- und Unterstadt hinwegschritt und in die Schlucht hinabblickte.
Niemand wusste, was mit den Riesen geschehen war, die ihre Burg früher an dieser Stelle errichtet hatten. Ein paar Knochen waren gefunden worden, die als Kunstwerke auf den Plätzen standen und daran gemahnten, dass die Albae ihr Refugium der Vergänglichkeit ihrer Vorgänger verdankten.
Eine Seuche wird sie dahingerafft haben. Ein Fieber aus dem Moor, dachte Irïanora und schwenkte nach der Brücke auf den Weg ein, der zum Palast ihres Oheims führte.
Der Krieger geleitete sie schweigsam und ließ sich seine Gedanken nicht anmerken.
Bald darauf stand sie in der Halle der Gesuche, wie der dreißig Schritt hohe Saal mit dem Kreuzgewölbe von den Einwohnern genannt wurde. Maler hatten die Wände verziert, die Decke war mit Knochenscheibchen getäfelt, während die Grate mit Silber beschlagen waren. Zahlreiche Lüster baumelten herab und sorgten für Licht.
Ah, ich soll dem Alten zur Hand gehen. Irïanora wollte auf den Stuhl rechts der Mitte wechseln, wo ihr Oheim Platz nahm, wenn er die Vorschläge, Gesuche und Beschwerden alle vierzig Momente der Unendlichkeit anhörte. Sie hatte dem oft beigewohnt, brachte ihm Wein und verbesserte den Schreiber, wenn er einen Fehler beim Notieren der Streitfälle beging.
»Halt.« Der Krieger hielt sie am Arm fest. »Du sollst hier warten.«
Mit einer Mischung aus Unglaube und Fassungslosigkeit blieb sie stehen.
Nun bin ich diejenige, die angehört wird? Alles war möglich. Vielleicht ein Nachspiel zu den Onwú, vielleicht ein Nachhaken zu dem Boot, das sie hatte entwerfen lassen. Ich stehe zum ersten Mal auf dieser Seite der Halle. Die Albin hatte ein bitteres Lachen auf den Lippen.
Die Seitentür schwang auf, und Shôtoràs trat ein, ohne sie eines Blickes zu würdigen; das Ende seines Gehstockes setzte er ausnahmsweise leise auf.
Er erklomm das Podest und nahm hinter dem balkonartigen Pult Platz. Mit einer ungeduldigen Geste scheuchte er den Gardisten hinaus.
Krachend fiel die Tür hinter dem Alb ins Schloss und erzeugte ein hallendes Donnern, das an ein Unwetter erinnerte.
Der Regent rieb sich mit der Hand über den Nacken, warf das dichte, hellgraue Haar zurück. Eine Hand stützte sich auf den metallenen Krähenschnabel, die andere lag auf dem Tischchen. Seine Augen blieben zunächst auf das dunkle Holz gerichtet, sein Mund war zu einem dünnen Strich zusammengepresst.
Irïanora spürte, dass es klüger war, abzuwarten, auch wenn es sie Überwindung kostete.
Shôtoràs tippte plötzlich schnell mit der Kuppe des Zeigefingers auf die Tischplatte, holte Luft und gab doch nichts von sich außer einem lauten Ausatmen. Die Worte, die ihm einfielen, schienen ihm nicht ausreichend zu sein.
Unvermittelt griff er in die Tasche seines Gewands, holte etwas hervor und warf es nach ihr. Helle Federn trudelten durch den Raum.
Irïanora wurde von einer toten, goldfarbenen Taube getroffen, die den Klauen eines Raubvogels zum
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