Die Legenden der Albae: Tobender Sturm (Die Legenden der Albae 4) (German Edition)
Opfer gefallen sein musste.
Dumpf raschelnd fiel das Tier vor ihre Füße, ein Flügel spreizte sich dabei ab; deutlich sah man rote Spritzer darauf.
Innerhalb eines halben Herzschlags begriff Irïanora, und ihr wurde heiß. Schweißperlen bildeten sich auf ihrem Rücken und auf der Stirn. Jetzt musste sie sich etwas einfallen lassen. Keiner ihrer Pläne hatte vorgesehen, dass ihr Oheim zuerst mit Nachrichten versorgt wurde.
»Ich, Gathalor, verfüge, dass mein Hab und Gut an Irïanora fallen soll«, zitierte er aus dem Gedächtnis und trug die Worte vor, als handelte es sich um ein Gedicht. »Da sie mein Herz schon besitzt, möge ihr im Fall meines Todes obendrein mein Vermögen gegeben werden.«
Die Sätze hallten an der hohen Decke entlang und benötigten lange, bis sie verklangen.
Nun begehe keinen Fehler, mahnte sich Irïanora und zauberte einen Ausdruck der Betroffenheit auf ihr Antlitz. »Gathalor ist tot? Wie schrecklich!« Sie blickte auf die geschlagene Taube. »Warum kommt die Nachricht auf diesem Weg?«
Shôtoràs sprang auf und ließ den Gehstock auf das Pult krachen; klickernd zersprangen beinerne Intarsien und hopsten auf den Steinboden. »Versuche es noch einmal«, grollte er.
Irïanora versuchte, an seinem wütenden Blick zu erkennen, was er sich zusammenreimte und was er bereits wusste. Sie bewunderte seine Beherrschung. Bei jedem anderen Alb wären die schwarzen Linien auf den Zügen schon längst zu erkennen gewesen.
»Dann machte er wahr, wovon er mir so oft berichtete«, setzte sie vorsichtig an. »Er träumte davon, den Fluss hinabzufahren.«
Shôtoràs setzte sich ganz langsam, schwieg.
»Er, Saitôra und Iophâlor hatten das Vorhaben fest gefasst. Sie wollten den Tronjor erkunden und sehen, was unterwegs an Abenteuern wartet. Ihnen sei das Leben in Dsôn zu langweilig und ohne Herausforderung«, ersann sie eine Erklärung, bei der sie am Ende die wenigste Schuld trug. »Ich versuchte, sie davon abzubringen. Mir war unsere letzte Unterredung über Schiffe noch deutlich in Erinnerung. Der arme Bethòras.«
Shôtoràs nahm seinen forschenden Blick von ihr und starrte gegen die hohe Decke mit den Beinplättchen; die rechte Hand blieb am Griff des Stockes. Die Reflexion eines Lichtschimmers wurde von einem der Silbergrate quer über sein Antlitz geworfen, als trüge er eine leuchtende Narbe.
»Da sich wirklich alles auf einer solchen Reise ereignen kann, bat ich Gathalor, einige meiner Brieftauben mitzunehmen, damit sie notfalls Beistand erbeten können«, redete Irïanora weiter und fühlte sich etwas sicherer. Er weiß weniger als befürchtet, sonst hätte er mich schon längst unterbrochen. »Ich gab ihnen eine alte Karte mit, damit sie sich ein wenig orientieren können und nicht jeder Stromschnelle auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind.«
»Wann brachen sie auf?«, verlangte er mit rauer Stimme zu wissen.
»Genau kann ich es nicht sagen. Sie wollten ein einfaches Fischerboot nehmen und …«
Shôtoràs drehte ruckartig den Kopf zu ihr, die hellgrauen Haare rutschten nach vorne. »Wieso verschwiegst du es mir?«
»Weil es nicht meine Unternehmung ist«, wagte sie leichten Widerspruch. »Wenn Gathalor und seine Freunde bereit sind, das Wagnis einzugehen, warum sollte ich sie abhalten? Mir ist es nicht vergönnt, dann können wenigstens sie es versuchen.« Irïanora räusperte sich in die hohle Hand. »Oheim, ich trage keine Verantwortung an ihrem Tod.«
Der Regent ließ sich lange Zeit, bevor er ihr antwortete. »Doch. Die kann ich dir nicht abnehmen. Denn hätte ich davon erfahren, wären sie erst gar nicht in den Kahn gestiegen.« Shôtoràs reckte den Stock, die Spitze deutete zur Gewölbedecke. »Wir vermögen zu erahnen, wer diese gewaltigen Hallen errichtete. Wer die Quader, die doppelt so dick sind, wie ein Alb lang ist, aufeinanderschichtete und doch von etwas besiegt wurde. Eine Krankheit, ein Fluch, Magie – wer weiß das schon?« Die Spitze zielte plötzlich auf sie. »Was ich sehr wohl erahne: Du hattest deine Finger bei ihrem Abenteuer im Spiel.«
»Oheim, ich …«
» Du sandtest sie aus, du gabst ihnen die Karte und du schicktest sie in den Tod!«, schrie er sie an und erhob sich dabei. Nun schossen die Zorneslinien über sein Antlitz. Der Stock bebte, die Fingerknöchel standen weiß hervor. Shôtoràs umspannte den Griff mit ungezügelter Kraft. »Und alles, was du mir bietest, ist diese erlogene Geschichte?« Er sprang vom Podest und eilte heran, die
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