Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
den Berg hinaufrannten. Das war zwar ganz hilfreich, weil die Jagd auf die Eingeborenen sie eine Weile beschäftigen würde, andererseits aber ein Problem, denn sobald sie mitkriegten, dass es gar keine Eingeborenen gab, würden sie vermutlich mir nachsetzen.
Ich versuchte, schneller zu rennen, wobei ich über meine eigenen Füße stolperte und Staub aufwirbelte, als ich die steile Straße hinunterkugelte. Als ich mich wieder aufrappelte, wollte mein Knie nicht mehr so recht – jedes Mal, wenn ich auftrat, spürte ich einen warnenden Schmerz, als könnte es jeden Moment den Geist aufgeben. Um es zu schonen, blieb mir nichts anderes übrig, als langsamer zu laufen. Ich humpelte wie ein Buckliger.
Ungefähr nach einem Kilometer fuhr ein Lieferwagen aus der anderen Richtung an mir vorbei und das erschrockene Gesicht des Fahrers ließ mein Herz vor Angst pochen: In diesem Zustand konnte ich mich auf keinen Fall in Selighafen blicken lassen. Auf Dreckswetter hätte ich am helllichten Tag so durch Galgenhafen spazieren können und keiner hätte sich umgedreht. Auf der Himmlischen Straße fiel ein verdreckter, blutender, erschöpfter, humpelnder Junge jedoch auf. Wie viel Zeit blieb mir noch, bevor Pembroke nach mir zu suchen begann? Vermutlich nicht viel.
Ich musste einen Unterschlupf finden. Zu meiner Rechten flachte die Klippe bald zum Strand ab, doch zuerst musste ich an der Südfestung von Morgenröte vorbei. Da zum Glück auf der linken Seite der Straße dichter Wald lag, versuchte ich, dort im Schutz des Unterholzes meinen Weg fortzusetzen. So war ich zwar nicht zu sehen, aber ich kam schlecht voran. Der Boden war mit niedrigen, dornigen Sträuchern bedeckt, die an meinen Hosenbeinen rissen und nach mir zu greifen schienen. Ich kämpfte mich ein paar Hundert Meter so weiter, bis ich ein Stück an der Festung vorbei war und die Klippen auf der anderen Seite in Strand übergingen. Erst dann kehrte ich auf die Straße zurück.
Nun war ich weniger als einen halben Kilometer von Selighafen entfernt. Ich konnte die Kais erkennen, wo immer noch der gewaltige Rumpf des Touristenschiffs Irdische Freude zu sehen war, außerdem den üblichen dichten Menschenauflauf auf der Himmlischen Straße und in der Umgebung.
Ich rannte von der Straße zum Strand, zog Hemd und Schuhe aus, rollte die Hosenbeine hoch und schlenderte, in der Hoffnung, wie ein sorgloser Strandgänger auszusehen, am Wasser entlang. Keine Ahnung, wie überzeugend ich aussah, doch der Strand war so gut wie menschenleer und hier hielt ich zumindest Abstand zum Treiben auf der Uferstraße.
Außerdem hatte ich den Kai besser im Blick, und im Näherkommen suchte ich ihn nach dem Ruderboot ab, das wir bei unserer Ankunft festgebunden hatten. Ich entdeckte ein kleines Boot an ungefähr derselben Stelle, wo wir unseres zurückgelassen hatten, und einen Augenblick glaubte ich schon, ich hätte Glück … bis ich einen Fischer hineinklettern und ablegen sah.
Das Ruderboot war längst weg. Wenn ich Morgenröte mit dem Boot verlassen wollte, würde ich eines stehlen müssen.
Wieder machte sich Angst in mir breit und ich musste mich zwingen weiterzulaufen. Jetzt war ich nur noch hundert Meter vom Kai entfernt und hatte keinen blassen Schimmer, was ich tun sollte, wenn ich dort ankam.
Weiter vorn waren drei kleine Kinder, allesamt barfuß. Sie lachten und jagten einander in der Brandung, während ihre finster dreinblickenden Eltern vom Strand aus zusahen und drei Paar kleine Schuhe hielten. Die Kinder trugen alle kurze Samthosen und Seidenhemden. Die Hemden waren klatschnass und klebten wie eine zweite Haut an ihnen.
»Das reicht jetzt, Kinder! Wir müssen wieder an Bord!«, rief ihre Mutter.
Die Kinder überhörten sie geflissentlich. Nach einem Moment brüllte der Vater: »Das Schiff legt ab! Wollt ihr hierbleiben? Sollen wir ohne euch nach Rovien zurückfahren?«
Als die Kinder sich widerwillig vom Wasser abwendeten, sah ich zum Kai hinauf. Bei der Irdischen Freude waren zwei Gangways ausgefahren und ließen einen stetigen Strom reicher, sonnengebräunter Rovier an Bord. Viele trugen Einkaufstüten der Läden auf der Himmlischen Straße.
Nach Rovien wollte ich nicht. Aber auf Morgenröte konnte ich nicht bleiben, und eine andere Möglichkeit schien sich mir nicht zu bieten.
Ich sah völlig ramponiert aus, und das musste ich unbedingt ändern. Ich stellte meine Schuhe ab, watete mit dem Hemd in der Hand ins Wasser und tauchte in die Brandung.
Als ich
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