Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
Zwischen den Kisten und dem Schott waren ein paar Meter Platz, genug, um sich hineinzulegen.
Ich sah über das Deck zu den Kindern. Sie drehten mir den Rücken zu und waren völlig in ihr Spiel vertieft. Hastig zog ich mein nasses Hemd wieder an und kroch unter die Plane, wo ich in die hinterste Ecke krabbelte und die steife Abdeckung über mich breitete, so dass sie sich zwischen der Kiste und der Wand wie ein Zelt spannte. Hier konnte ich mich auf den Rücken legen und atmen, ohne dass die Plane raschelte.
Trotz der Enge war es nicht allzu ungemütlich. Ich lag still und hörte den Kindern beim Spielen zu. Dem Geräuschpegel nach waren es verzogene Gören, die sich bei jeder Gelegenheit stritten und hässliche Drohungen über die schrecklichen Dinge ausstießen, die ihre reichen und mächtigen Väter tun würden, wenn jemand nicht seinen Willen bekam. Größtenteils ging es um Folter und Gefängnisstrafen, doch was immer »Verklagen« bedeutete, davon war auch oft die Rede.
Als meine Kleider zu trocknen anfingen, juckte es mich plötzlich an allen nur denkbaren Stellen, aber aus Angst, mich zu verraten, konnte ich mich nicht kratzen.
Nach einer Weile näherten sich Schritte auf der nahe gelegenen Treppe, und die Kinder beendeten ihr Spiel und gingen ebenfalls hoch. Die gedämpften Schritte auf dem Deck über mir nahmen zu, bis das gesamte Schiff über meinem Kopf hin und her zu laufen schien.
Danach waren schwere dumpfe Schläge zu vernehmen – vermutlich Taue, die auf dem Deck aufschlugen –, dann lauter Jubel der Menge. Wir legten ab.
Ich konnte jetzt spüren, wie das Boot schwerfällig in See stach. Die Füße verteilten sich allmählich wieder auf die unteren Decks. Wenig später muss die Sonne untergegangen sein, denn das spärliche Licht, das bis dahin in mein Versteck gedrungen war, erlosch völlig.
Die Zeit verging. Von einem entfernten Deck drang Essensduft zu mir. Ich starb mittlerweile vor Hunger, und als ich dort in der Dunkelheit lag, fragte ich mich, was die Passagiere wohl zu Abend essen mochten und ob ich später etwas davon stibitzen konnte.
Irgendwo unten begann eine Kapelle zu spielen.
Es war nun lange ruhig gewesen auf dem Batteriedeck. Die Angst vor Entdeckung, die mich während der vergangenen Stunden starr auf meinem Platz hatte verharren lassen, nahm ab und ich erlaubte mir, mich anders hinzulegen und die zahlreichen juckenden Stellen zu kratzen. Aufstehen und nach etwas Essbarem suchen würde ich jedoch erst, wenn ich sicher sein konnte, dass Passagiere und Besatzung schliefen, was weitere Stunden des Stillliegens im Dunkeln bedeutete.
Ich versuchte, ein Nickerchen zu machen, doch mir gingen zu viele Gedanken durch den Kopf. Immerhin war mein Hirn jetzt etwas ruhiger – der Schock über all das, was passiert war, ließ allmählich nach und es gelang mir, meine Gedanken in eine klare Linie zu zwingen.
Wir segelten Richtung Osten, ließen die Blauen Meere hinter uns und reisten über den Großen Schlund nach Rovien. Dort wäre ich vor Roger Pembroke in Sicherheit. So bösartig er auch war, er wollte mich bloß wegen des Schatzes auf Dreckswetter umbringen. Wenn ich verschwand und nie zurückkehrte, würde er nicht über den ganzen Ozean hinweg Jagd auf mich machen.
Ich könnte ein neues Leben in Rovien beginnen. Ich war nie dort gewesen, doch die meisten Bücher, die ich gelesen hatte, stammten aus Rovien und ich konnte mir ungefähr vorstellen, was mich dort erwartete. Es gab Städte und reiche Leute und arme Leute. Für die armen Leute war es schwer, reich zu werden, aber manchmal klappte es, zumindest in den Büchern.
Ich würde arm anfangen, so viel stand fest, doch wenn ich hart arbeitete und mich schlau anstellte, würde sich vielleicht alles zum Guten für mich wenden. Ich würde mir einen Handwerker suchen – vielleicht einen Buchdrucker –, sein Lehrling werden und mich langsam zu Ansehen und einem anständigen Leben hocharbeiten.
Ich müsste nie zurückgehen. Sollte Pembroke doch den Schatz haben. Die Piraten konnten die Stinkfruchtplantage haben. Alles, was ich wollte, war Millicent.
Und eines Tages würde sie nach Rovien kommen. Sie hatte mit mir darüber geredet – dass sie unbedingt die Städte sehen wollte und den Rest des Kontinents. Eines Tages würde sie auftauchen, unsere Wege würden sich kreuzen und zuerst wäre sie hin- und hergerissen und würde die Chance, das Imperium ihres Vaters zu übernehmen, nicht aufgeben wollen. Doch mit der Zeit
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