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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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anderen Mitspieler ein. Der Wert der einzelnen Knöpfe wird nach einem vertrackten System bestimmt, je nachdem, ob sie aus gelbem Plastik, schwarzem Horn oder schillerndem Stahl sind.
Gużki
heißt das Spiel auf Polnisch,
knefle
im schlesischen Deutsch.
    Józef ist geschäftstüchtig. Nach der Schule zieht er mit den anderen los, um auf der Halde des Bergwerks
Michał
im Norden der Stadt zwischen dem Abraum mit einem alten Blecheimer in der Hand nach Brechkoks zu suchen oder auf dem Gelände der Laurahütte verrostetes Eisen zu sammeln, das er bei einem Schrotthändler in ihrem Viertel zu Geld machen kann. Holzreste schnürt er mit einem Bindfaden zusammen und verkauft die Bündel als Brennmaterial zum Anfeuern der Öfen. Er bekommt ein paar
groszy
, wenn er älteren Leuten ihre Taschen mit den Einkäufen nach Hause trägt, und im Herbst, wenn die Kirmes zu Ende ist, sucht er am nächsten Tag auf dem leeren Rummelplatz im Gras nach Geldstücken, die durch die Zwischenräume zwischen den Holzbohlen am Boden der Buden gefallen sind.
    Er legt mit den anderen zusammen, und sie kaufen beim Bäcker an der Ecke
Piastowska
und
Głowackiego
Kuchenreste oder beim Fleischer gegenüber vom Bahnhof für fünf
groszy
ein Paket mit Wurstresten, das sie sich in ihrem Versteck bei den Bahngleisen teilen. Sie sitzen im hohen Gras zwischen den Güterschuppen und Lagerhallen, und an manchen Nachmittagen spüren sie, wie der Boden unter ihren Füßen zittert. Unter Tage wird gesprengt, und mit |51| dem dumpfen Beben der Explosionen rollen unheimliche Geschichten heran. Józef hört zu, wie die Freunde, deren Eltern im Bergwerk arbeiten, von eingestürzten Schächten erzählen, von verschütteten Stollen und von dem Bergarbeiter, der Selbstmord begangen hat, indem er sich auf eine Kiste Dynamit setzte und sich vor den Augen der anderen Kumpel in die Luft jagte.
    Józef ist dreizehn Jahre alt, als in Siemianowitz plötzlich alle von dem Krieg reden, der Europa bevorsteht. Es geht um Deutschland, Italien und Spanien, um Frankreich und Großbritannien, eine internationale Krise folgt auf die nächste, und Polen rüstet sich für den Ernstfall. Auf dem Schulhof sprechen Józef und die anderen während der Pause über den Panzer 7TP, den die polnische Armee nach dem Vorbild eines britischen Modells entwickelt hat, über U-Boote und Zerstörer, Truppenstärken und Aufmarschzeiten. Die einen wollen zur Marine, die anderen zur Luftwaffe. Józef will Pilot werden.
     
    Dann kommt der Sommer 1939. In Polen brechen die Schulferien an. Józef geht schwimmen, spielt Fußball, zieht mit seinen Freunden über die Halden. Im Herbst soll er auf das Gymnasium wechseln. Seine Noten sind gut, und seine Eltern träumen davon, ihn ein Priesterseminar besuchen zu lassen. Dann heulen am frühen Morgen des 1. September überall in der Stadt die Sirenen. Der Krieg hat begonnen, am ersten Tag nach den großen Ferien. Augustyn ist bereits bei der Arbeit. Maria ruft nach den Kindern, um sich mit ihnen in den Keller des Hauses zu flüchten. Józef ist verschwunden. Maria läuft auf die Straße, um ihn zu suchen, zuerst nach links, dann nach rechts, entlang der Mauer der Laurahütte, |52| bis zur Ecke
Głowackiego.
Dort steht Józef vor der Bäckerei, den Kopf in den Nacken gelegt, und sucht mit zusammengekniffenen Augen den Himmel nach Flugzeugen ab. Seine Mutter greift ihn am Arm und zieht ihn mit sich nach Hause. Im Keller warten sie gemeinsam mit den Nachbarn darauf, dass die ersten Bomben fallen.
    Die deutschen Flugzeuge ziehen über die Stadt hinweg. Siemianowitz wird nicht angegriffen, und nach einigen Stunden wagt sich Maria mit ihren Kindern wieder aus dem Keller hervor. Sie kehren zurück in die Wohnung, um auf Augustyn zu warten, der wie jeden Tag zum Bahnhof zum Dienst gegangen ist. Als er zurückkommt, liegen die Kinder bereits im Bett.
    Jeden Abend bringt Augustyn neue Nachrichten mit nach Hause. Die Panzer der Wehrmacht überrollen das Land. Luftangriffe begleiten den Vormarsch der deutschen Truppen. Nach Deutschland greift die Sowjetunion Polen an. Als die Rote Armee einmarschiert, ist das Land endgültig verloren. Anfang Oktober geben die letzten polnischen Einheiten auf. Wie es weitergeht, kann man in den Geschichtsbüchern nachlesen. Die Sowjetunion besetzt das Land östlich des Bug, Deutschland den Westen. Das Gebiet zwischen Warschau und Krakau wird zum »Generalgouvernement« erklärt. Die ehemaligen preußischen Provinzen Pommern, Posen und

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