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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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Deutschen übernehmen bereits im November 1939 das Streckennetz im ehemals polnischen Teil Schlesiens. Augustyn erscheint jeden Morgen pünktlich zum Dienst auf dem Bahnhof von Siemianowitz. Die Arbeit ist die gleiche wie vor dem Krieg, nur dass er eine neue Uniform bekommen hat. Augustyn trägt jetzt die dunkelblaue Schirmmütze der Reichsbahn mit der roten Biese und dem goldenen Adler, samt Hakenkreuz.
    |56| Zu Beginn des Jahres 1940 hört er sich vorsichtig bei seinen Vorgesetzten um. Es gibt keine Einwände gegen eine Versetzung nach Lublinitz. Also fährt er an den Wochenenden mit Józef nach Steblau, um die letzten Arbeiten am Haus zu erledigen. Die Fenster hatte Augustyn noch vor Ausbruch des Krieges einsetzen lassen, und das Holz für den Fußboden war bereits geliefert worden. Józef und sein Vater verputzen die Wände, sie schlagen Nägel in die Dielenbretter, setzen Türen ein und tapezieren. Bevor sie sich am Sonntagabend aufmachen, um von Lublinitz über Tarnowitz und Beuthen zurück nach Siemianowitz zu fahren, heizen sie noch einmal sämtliche Öfen ein, um die Feuchtigkeit aus dem klammen Mauerwerk zu treiben.
    Ende März ist es so weit. Die Familie zieht um, und als Maria, Augustyn und ihre Kinder mit einem Wagen voller Möbel, Kisten und Koffer in Steblau eintreffen und im Körnerweg Nummer fünf zum ersten Mal gemeinsam durch die leeren Zimmer des neuen Hauses gehen, in denen es nach Holz, Putz und frischer Farbe riecht, sieht es so aus, als ob mitten im Krieg ein neues Leben beginnt. Augustyn fährt morgens mit dem Fahrrad zum Bahnhof von Lublinitz, Maria lockert den harten Boden im Garten mit Spaten und Spitzhacke auf, um Kartoffeln anzupflanzen, Mohrrüben, Bohnen und Kohl. Nach Ostern wird der Schulbetrieb im Kreis Lublinitz wieder aufgenommen. Anna, Hilda und Lena besuchen die Volksschule und verstehen zunächst kein Wort. Der Unterricht findet auf Deutsch statt, und im Gegensatz zu ihrem älteren Bruder haben sie die Sprache nie richtig gelernt.
    Józef ist jetzt fünfzehn. Er bleibt zu Hause. In Lublinitz gibt es ein Gymnasium, doch höhere Schulen dürfen nur die |57| Kinder deutscher Familien besuchen. Er streift durch die Wälder im ehemaligen Grenzland, erkundet die schmalen Straßen und Gassen rund um das alte Rathaus und den kleinen Markplatz von Lublinitz. Manchmal geht er angeln und bringt einen Fisch mit nach Hause, den er hinter dem Haus unter dem Wasserstrahl der Pumpe ausnimmt.
    Es ist das erste Jahr in Steblau. Im Sommer lernt Józef die anderen Jungen in der Nachbarschaft kennen. Abends spielen sie Fußball auf den Sandwegen zwischen den Häusern, und Józef freundet sich mit Alois Gambusch an, der ein paar Straßen weiter mit seinen Geschwistern und seiner Mutter lebt. Er arbeitet als Stallknecht und Erntehelfer auf den Bauernhöfen in der Umgebung. Alois ist zwei Jahre älter als Józef, ein stämmiger junger Mann, der sich einen dünnen Schnurrbart stehen lässt und immer eine Zigarette im Mundwinkel hat. Sein Vater war gleich nach Ausbruch des Krieges von den Deutschen verschleppt worden, aber Alois verliert nie ein Wort darüber.
    Anfang September nimmt er Józef für ein paar Tage mit hinaus auf die Felder. Nach der Arbeit lassen sie sich erschöpft an einer der Heuhaufen auf den Boden sinken und blinzeln in die warme Abendsonne. Alois bietet Zigaretten an, und Józef gewöhnt sich langsam an den beißenden Geschmack des Tabaks. Während sie rauchen, reden sie über den Krieg. Alois ist Pole, genau wie Józef, aber er schwärmt von den Siegen der Wehrmacht, von den Fallschirmjägern, die die Landung der Deutschen in Norwegen vorbereitet und von den Panzerdivisionen, die im Frühjahr Frankreich überrollt haben.
    Gerade erst hat der Luftkampf um England begonnen. Noch melden die Zeitungen schwere Verluste aufseiten der |58| Briten. Józef und Alois wissen alles über Reichweiten, PS-Zahlen und Bordwaffen der Dorniers, Spitfires und Hurricanes. Sie kennen jedes einzelne Detail der JU 87, der deutschen Sturzkampfbomber, die sich unter dem lauten Heulen der Fahrtwindsirene aus den Wolken auf ihre Ziele stürzen. Sie sprechen über die Tricks, mit denen die Piloten der Messerschmitts ihre Gegner in der Luft überrumpeln, sie vergleichen Kurvenflugtauglichkeit und Bombenlast der englischen und deutschen Flugzeuge. Und manchmal liegen sie auch einfach nur am Rand des Feldes im Gras, sehen in den Himmel und stellen sich vor, dass sie selbst hinter dem Steuerknüppel eines

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