Die Legenden der Vaeter
Schlesien werden an das Reich angeschlossen. Die Familie Koźlik lebt jetzt wieder in Deutschland.
|53| I n Steblau hatte ich aus Annas Küchenfenster einen Blick über die Felder und Wiesen hinter den Wohnhäusern geworfen. Es gab noch zwei Höfe, die daran erinnerten, dass der heutige Ortsteil von Lublinitz im neunzehnten Jahrhundert eine kleine Bauernschaft gewesen war, knapp zwanzig Kilometer entfernt von Colonnowska. Steblau hatte einst als Vorwerk zum Rittergut Lublinitz gehört, mit einem eigenen, herrschaftlichen Gutshof. Doch die Bewohner von Steblau waren arm. Der Boden war lehmig und bot keine großen Erträge. Im Frühjahr drang die Pflugschar nur mit Mühe durch die harte Krume, und wenn im Herbst die schweren Regenschauer über das flache, ungeschützte Land zogen, verwandelten sich die Kartoffeläcker und Kohlfelder in eine Sumpflandschaft. Im Jahre 1863 brach auf dem Heuboden einer Scheune ein Feuer aus, das in Windeseile auf benachbarte Häuser und Ställe übergriff. Steblau brannte nieder und musste neu aufgebaut werden. Zwei Jahre später lebten einer amtlichen Statistik zufolge gerade einmal einhundertsiebenundzwanzig Menschen hier, außerdem wurden sechs Pferde, neun Ochsen und achtunddreißig Kühe verzeichnet.
Nach dem Ersten Weltkrieg hatten Diplomaten aus der ganzen Welt über Monate hinweg beim Rat des Völkerbunds in Genf über die Aufteilung Oberschlesiens gestritten. |54| Eine der vielen Kompromisslösungen, die im Sommer des Jahres 1921 gefunden wurden, bestand darin, die Grenze nördlich von Tarnowitz nach einem Schlenker quer durch den Landkreis Lublinitz zu führen. Die Dörfer und Bauernschaften im Westen des Kreises gehörten ab jetzt zum Deutschen Reich. Steblau dagegen lag auf der polnischen Seite. Es wurde in Steblów umbenannt, und aus der Kreisstadt Lublinitz wurde der
powiat
Lubliniec. Die Einwohnerzahlen stiegen. Viele Polen wechselten aus dem deutschen Teil Oberschlesiens auf die andere Seite der Grenze und ließen sich in der Umgebung von Lublinitz nieder.
Mitte der dreißiger Jahre werden in Steblau rund dreißig Hektar als Bauland ausgewiesen. Entwässerungsgräben werden gezogen, Parzellen abgesteckt und die ersten Fundamente gelegt. Im Herbst 1938 erwirbt auch der junge Grenzbeamte Anton Szafrański eines der Grundstücke. Es liegt nicht weit von der Straße, die früher nach Rosenberg führte und seit der Teilung nur wenige Kilometer hinter Steblau an einem Schlagbaum endet. Szafrański hat gerade erst geheiratet. Die Bauarbeiten an seinem Haus sind noch nicht abgeschlossen, als er sich im Januar 1939 bei seinen nächtlichen Kontrollgängen durch die Wälder eine Lungenentzündung zuzieht. Er stirbt noch im selben Winter.
Die junge Witwe bietet das halb fertige Haus zum Verkauf an. Die Wände sind nicht verputzt, Fenster und Fußböden fehlen. Trotzdem findet sich ein Interessent. Der Stationsvorsteher Augustyn Koźlik aus Siemianowitz trägt sich seit längerem mit dem Gedanken, ein Haus zu kaufen. Zehn Jahre lang hatte er mit seiner Frau und seinen vier Kindern in der kleinen Wohnung in der
ulica Piastowska
gewohnt. Maria hatte ihn gedrängt, nach einem Haus auf |55| dem Land zu suchen. Sie hat das Leben in der lauten Stadt satt und wünscht sich einen eigenen Garten, um Obst und Gemüse anzubauen. Steblau scheint der ideale Ort zu sein, um sich niederzulassen. Das Dorf liegt nahe an der Grenze, und es ist nicht weit nach Bendawitz und Groß Stanisch, wo Maria und Augustyn immer noch Verwandte haben. Außerdem gibt es in Lublinitz einen großen Bahnhof. Zwei Bahnlinien kreuzen sich hier, und Augustyn rechnet sich Chancen auf den Posten des Stationsvorstehers aus.
Die Entscheidung fällt schnell. Augustyn verdient gut, fast fünfhundert
złoty
im Monat. Er hat in den letzten Jahren genug Geld beiseitegelegt. Darüber hinaus hatte eine der Schwestern mit ihrem Ehemann nach dem Tod seiner Eltern das Haus in Bendawitz übernommen und zahlt ihn jetzt aus. Der Beleg hat sich erhalten: Augustyn wendet sich am 8. März 1939 an die Devisenstelle in Breslau, um sich das Geld überweisen zu lassen. Am 12. August des Jahres 1939 ist es so weit, auch das ist dokumentiert. Augustyn unterschreibt den Kaufvertrag über Grundstück und Haus des verstorbenen Grenzbeamten Anton Szafrański in Steblau und stellt bei der Polnischen Staatsbahn einen Antrag auf Versetzung nach Lublinitz. Im September will er umziehen, spätestens im Oktober. Doch dann beginnt der Krieg.
Die
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