Die Legenden der Vaeter
Flugzeuges sitzen. »Schade, dass sie nur Deutsche nehmen«, sagt Józef. Alois pustet einen Rauchkringel in die Luft. »Warte es ab«, sagt er. »Bald nehmen sie jeden.«
Im März 1941 tritt in Oberschlesien die Verordnung über die Deutsche Volksliste in Kraft. Ostern ist gerade vorbei, als Augustyn Koźlik gegenüber vom Bahnhof das Backsteingebäude der Kreisverwaltung von Lublinitz betritt. In einem überheizten Büro beantwortet er eine Reihe von Fragen, die alle nur einen Zweck haben, nämlich zu klären, ob er eher ein Pole oder ein Deutscher ist. Augustyn gibt an, dass er von 1917 bis 1918 im 2. Schlesischen Husaren-Regiment der preußischen Kavallerie gedient habe, dass er 1929 von Groß Stanisch nach Siemianowitz gezogen sei, dass er in den Jahren vor Ausbruch des Krieges polnischer Staatsbürger gewesen sei und dass seine Muttersprache Polnisch sei, er aber genauso gut Deutsch spreche. Dann setzt er seine Unterschrift unter den Bogen mit seinen Antworten und fährt mit dem Fahrrad zurück nach Steblau.
Die Nationalsozialisten beäugen die Bewohner des ehemaligen |59| Grenzlandes mit Misstrauen. Die Oberschlesier, die keine echten Deutschen sind, aber auch keine richtigen Polen, passen nicht in die Kategorien der völkischen Ideologie. Die Deutsche Volksliste soll dieses Problem nun lösen. Es handelt sich um eine Art Melderegister, das aus vier Abteilungen besteht. In die ersten beiden Abteilungen, die Volksliste eins und zwei, werden ehemalige polnische Staatsbürger eingetragen, die nachweisen können, dass sie sich in der Zeit zwischen den Kriegen für die deutsche Minderheit engagiert haben. Sie bekommen umgehend die deutsche Staatsangehörigkeit zuerkannt, doch im östlichen Teil von Oberschlesien sind das nur wenige. In die Volksliste drei werden die Einwohner eingetragen, die schlecht oder gar nicht Deutsch sprechen, ihre deutsche Abstammung jedoch anhand von Geburtsurkunden oder Familienbüchern nachweisen können. Ihnen wird die Staatsangehörigkeit nur auf Probe erteilt.
Dann gibt es noch die Volksliste vier. Hier werden diejenigen aufgenommen, die sich in den Augen der Nationalsozialisten von ihren deutschen Wurzeln entfernt haben, Männer, die eine polnische Frau geheiratet haben, oder die sich wie Józefs Vater Augustyn in den zwanziger Jahren dafür entschieden haben, auf die andere Seite der Grenze zu wechseln und die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Ein Eintrag in die Volksliste vier ist gefährlich. Wer hier mit seinem Namen auftaucht, muss damit rechnen, seinen Besitz zu verlieren, zur Zwangsarbeit verpflichtet zu werden oder in einem Konzentrationslager zu enden.
Doch die Deutschen brauchen Arbeiter für die Bergwerke, Hütten und Walzwerke Oberschlesiens, die die Rüstungsindustrie im Reich mit Stahl beliefern. Also wird ein |60| Großteil der Bevölkerung kurzerhand in die dritte Abteilung der Volksliste eingetragen, egal, ob die Vorfahren Deutsche oder Polen waren. Auch Augustyn ist darunter. Józef begleitet seinen Vater, als er ein paar Tage später noch einmal bei der Kreisverwaltung vorspricht, um die Volkslistenausweise für ihn, seine Frau und seine Kinder abzuholen. Es sind gefaltete Karten aus grüner Pappe, mit Hakenkreuz-Stempel, Foto und der Unterschrift des Landrats. Józef steckt den Ausweis in die Innentasche seiner Jacke.
|61| J ózef ist sechzehn, als im Juni des Jahres 1941 Militärkolonnen Lublinitz durchqueren, auf dem Weg nach Osten. Im Sommer werden in Białystok und Minsk, Smolensk und Kiew die ersten Schlachten geschlagen, und die Wehrmacht setzt zum Marsch auf Moskau an. Der Krieg weitet sich aus, Deutschland braucht Soldaten, genau wie Alois es vorausgesagt hat. In Oberschlesien werden alle jungen Männer zur Wehrmacht eingezogen, die in die Volksliste eins, zwei und drei eingetragen worden sind.
Es gibt Gerüchte über Widerstand. In Ratibor sollen über hundert Jugendliche der Gestapo übergeben worden sein, weil sie sich während der Musterung demonstrativ als Polen bezeichneten, andere schwiegen, als ihre Kameraden den Fahneneid leisteten, und eine Handvoll Verzweifelter war angeblich ins Generalgouvernement geflohen, um nicht an die Front geschickt zu werden. Alois, der ältere der beiden Freunde, hat sich ohne Protest mustern lassen. Er hat sich für den Dienst in der Luftwaffe gemeldet, was sonst, und am 1. Oktober des Jahres 1941 nimmt Józef Abschied von ihm. Er begleitet ihn am frühen Morgen zum Bahnhof von Lublinitz, wartet auf
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