Die Legenden der Vaeter
dem Bahnsteig und hebt die Hand, als der Zug abfährt, der Alois und die anderen Rekruten zu ihrer Ausbildungskompanie bringen wird. Józef geht den weiten Weg nach Steblau allein zurück.
|62| Fast vierzig Jahre werden vergehen, bis er Alois Gambusch wieder trifft. Der Freund wird nach dem Krieg in Deutschland bleiben und sich in Bayern niederlassen, in Kochel am See. Erst in den siebziger Jahren wird er noch einmal für ein paar Tage nach Steblau kommen, und Józef gibt ihm bei dieser Gelegenheit einen der Briefe an meinen Vater mit, den Alois für ihn in Deutschland in den Briefkasten steckt.
Józef ist noch zu jung, um eingezogen zu werden. In den nächsten Monaten verbringt er viel Zeit zu Hause. Er spaltet Feuerholz, streicht die Fensterrahmen mit einem Rest Farbe, der noch vom Hausbau übrig ist, und gegen Mittag nimmt er das Fahrrad seiner Mutter und fährt raus an den Bahndamm, um Augustyn sein Mittagessen zu bringen. Sein Vater ist jetzt Gleisarbeiter. Den Posten als Stationsvorsteher hat er vor einem halben Jahr verloren, als die Angehörigen der Volksliste drei von Beamtenstellen ausgeschlossen wurden. Zusammen mit einem kleinen Trupp anderer Arbeiter bessert Augustyn an der Strecke von Lublinitz nach Tarnowitz das Gleisbett aus. Im Vergleich zu früher bekommt er nur noch einen Hungerlohn gezahlt.
Józef sammelt am Bahndamm ein paar Brocken Kohle auf, die von einem Güterzug gefallen sind, wie früher, als er mit den anderen Jungen in Siemianowitz nachmittags über die Halden gezogen war, und auf dem Rückweg klappert er die Bauern ab, bei denen er im Sommer zusammen mit Alois bei der Ernte geholfen hat. Manchmal kann einer von ihnen Hilfe gebrauchen. Dann packt Józef im Stall und auf dem Heuboden mit an und bringt abends eine Tüte Mehl oder ein kleines Stück Speck mit nach Hause. An guten |63| Tagen fällt sogar eine Zigarette für ihn ab, die er in seinem Zimmer mit dem Taschenmesser sorgfältig in drei Teile zerschneidet. Die Stummel raucht er heimlich, im Garten hinter dem Hühnerstall, wo seine Mutter ihn vom Küchenfenster aus nicht sehen kann.
Das nächste Jahr bricht an, und im Sommer, kurz bevor auf den Feldern die Ernte eingebracht wird, werden die jungen Männer des Jahrgangs 1925 überall im Deutschen Reich mit Aushängen dazu aufgerufen, sich bei ihren örtlichen Gendarmerieposten einzufinden. Józef entdeckt das Plakat eines Morgens in der Tür der Fleischerei in Steblau, und er meldet sich noch am selben Tag beim Polizisten, der zwei Häuser weiter wohnt. Er ist jetzt siebzehn Jahre alt.
Er legt seinen Volkslistenausweis vor, seine Personalien werden aufgenommen und an das Wehrbezirkskommando in Lublinitz weitergeleitet. Die Aufforderung zur Musterung ist sein erster amtlicher Brief. Im August des Jahres 1942 steht er vor dem Musterungsstab in Lublinitz. Józef steigt auf eine Waage, stellt sich neben ein Zentimetermaß, dann hört der Arzt mit dem Stethoskop die Lunge ab und das Herz, er leuchtet ihm mit einer Taschenlampe in den Hals und greift ihm zuletzt überraschend fest an die Hoden. Józef ist kerngesund, nichts spricht dagegen, dass er Soldat wird. Er äußert den Wunsch, zur Luftwaffe eingezogen zu werden, genau wie Alois.
Doch es dauert, bis Józef eingezogen wird. Erst muss er wie alle Wehrpflichtigen zum Reichsarbeitsdienst. Sechs Monate lang schleppt er in der Kornmühle von Lublinitz Säcke mit Mehl, und wenn er abends nach Hause kommt, sitzt er erschöpft und müde neben seinem Vater in der Küche. Es ist einer der vielen harten Winter dieses Krieges. Im |64| Mai 1943, als Roosevelt und Churchill auf einer Konferenz in Washington die ersten Pläne für eine gemeinsame Invasion in Frankreich schmieden, trifft endlich der Brief ein, auf den Józef gewartet hat. Er wird eingezogen und kommt tatsächlich zur Luftwaffe.
Das Fliegerregiment 63 ist ein reines Ausbildungsregiment. Die Einheit war einige Monate vor Beginn des Krieges in Eger aufgestellt worden, einer tschechischen Kleinstadt, die infolge des Münchener Abkommens an das Deutsche Reich gefallen war. Neben dem Regiment war hier eine Schule der Luftwaffe untergebracht worden, in der ein Teil der Rekruten in kleinen Gruppen auf den Flugzeugführerschein vorbereitet wurde, um als Bomberpilot, Jagdflieger oder Aufklärer eingesetzt zu werden. Davon träumt Józef, seit er zu Beginn des Krieges die ersten Flugzeuge am Himmel über Siemianowitz gesehen hat. Doch als er im Frühjahr 1943 im Alter von
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