Die Legenden der Vaeter
achtzehn Jahren eingezogen wird, werden in Eger schon längst keine Piloten mehr ausgebildet. Das Fliegerregiment 63 ist nach Frankreich verlegt worden.
Zu Beginn des Krieges hatte die Wehrmacht nur den Norden Frankreichs besetzt. Der Süden des Landes war unter die Verwaltung einer deutschfreundlichen Regierung mit Sitz in Vichy gestellt. Nachdem britische und amerikanische Streitkräfte im Herbst 1942 in Nordafrika gelandet waren, fürchteten die Deutschen, dass eine Invasion an der Atlantikküste kurz bevorstand, und weiteten die deutsche Besatzung auf ganz Frankreich aus. Das Fliegerregiment 63 gehört zu den Einheiten, die die deutschen Truppen im Land verstärken sollen. Im November 1942 war es zunächst nach Lothringen verlegt worden, und ein halbes Jahr später |65| trifft Józef mit einem Truppentransport in Toul ein, einer kleinen Stadt in der Nähe von Nancy. Bereits im Zug hat er festgestellt, dass er nicht der einzige Rekrut ist, der aus dem ehemaligen Grenzland im Osten des Deutschen Reiches kommt. Im Fliegerregiment 63 gibt es viele Oberschlesier, Masuren und Kaschuben, die vor dem Krieg in Polen gelebt haben. »Beutekameraden« werden sie von den anderen Soldaten genannt, und sie stehen ganz unten in der Hackordnung.
Die Grundausbildung dauert acht Wochen. Die Rekruten lernen anzutreten, Meldung zu machen und im Gleichschritt zu marschieren. Józef läuft stundenlang mit schwerem Gepäck durch das Gelände, baut Unterstände, sichert Brücken. Er macht unzählige Liegestütze und Kniebeugen auf dem staubigen Kasernenhof und reißt sich die Hände am rauen Holz der Eskaladierwand auf, er zielt mit dem Karabiner auf Pappkameraden und übt den Umgang mit Handgranaten, Panzerwurfminen und Rollbomben. Józefs Ergebnisse auf dem Schießstand sind schlecht, und mittlerweile hasst er die Übungen mit der Gasmaske. Jedes Mal zerrt er zu lange an den Lederriemen, bis sein Ausbilder, der mit Stoppuhr und Trillerpfeife neben ihm steht, ihm die Maske wütend aus den Händen schlägt: »Du bist längst tot.«
Am Anfang hatten die anderen noch gelacht, wenn einer von ihnen vom Spieß zusammengestaucht wurde. Jetzt heben sie nicht einmal mehr den Kopf. Die Stimmung im Regiment ist miserabel. Schuld daran ist nicht der harte Drill. Seit Tagen machen Gerüchte über den künftigen Einsatz der Rekruten die Runde. Die Luftwaffe hat an Bedeutung verloren. Die Luftschlacht um England war zur ersten großen |66| Niederlage der Wehrmacht geworden, und während des Russlandfeldzugs stellte sich heraus, dass die Reichweite der deutschen Flugzeuge zu gering ist, um die langen Strecken bis zur Ostfront zu überbrücken. Jetzt schlagen die Gegner zurück. Die Engländer und Amerikaner zerstören mit Bombenangriffen deutsche Industrieanlagen. Die Flugzeugproduktion geht zurück, der Treibstoff wird knapp, und die Pilotenausbildung ist so gut wie ganz eingestellt worden. Das überzählige Personal der Luftwaffe soll in Felddivisionen zusammengefasst werden und dem Heer zu Hilfe kommen.
In der Kaserne von Toul macht sich Angst breit. Die jungen Soldaten rechnen fest damit, nach Osten verlegt zu werden. In einigen Kompanien kommt es zu Unruhen, und es reist sogar ein Bevollmächtigter aus dem Berliner Luftfahrtministerium an, um mit den meuternden Soldaten zu verhandeln. Die Lage im Regiment beruhigt sich erst, als die Soldaten erfahren, dass sie nicht nach ihrer Ausbildung in das Stammpersonal des Regiments übernommen werden. Sie sollen Wachmannschaften für die Stützpunkte der Luftwaffe im Süden Frankreichs stellen. Das Fliegerregiment 63 wird im Sommer 1944 in die Nähe von Marseille verlegt und dann weiter nach Nîmes. Józef sieht zum ersten Mal in seinem Leben Palmen.
Der Krieg rückt näher. Im Juli setzen alliierte Truppen von Nordafrika nach Sizilien über. Ein Kaschube aus Danzig, mit dem Józef sich während einer der langen Nachtwachen eine Zigarette teilt, erzählt ihm, dass ganze Scharen von polnischen Soldaten aus der Wehrmacht zum Gegner übergelaufen seien. Die Einheiten der Briten und Amerikaner würden mittlerweile sogar Kleidung und falsche Papiere |67| mit sich führen, um die Deserteure noch an der Front in ihre Reihen übernehmen zu können.
Es ist eine sternklare Nacht. Józef hält seine Zigarette in der hohlen Hand, um die Glut in der Dunkelheit zu verbergen. »Was würdest du machen?«, fragt ihn der Kaschube.
Seit Józef in Frankreich ist, schickt seine Mutter ihm jede Woche einen Brief.
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