Die Legenden der Vaeter
Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Eine Operation schien aussichtslos. Der Arzt vernähte die Wunde. Ein paar Wochen, vielleicht sogar einige Monate würde Augustyn noch zu leben haben, erklärte er Maria, |80| die mit ihren drei Töchtern im Flur des Krankenhauses gewartet hatte. Doch Augustyn war bereits zu schwach. Er erwachte nicht mehr aus der Narkose. Um 14.15 Uhr stellte eine Krankenschwester seinen Tod fest.
|81| E s ist ein weiter Weg. Józef fährt über Rennes und Le Mans nach Paris, weiter nach Straßburg und dann, am Rhein entlang, nach Karlsruhe. Die Züge sind überfüllt mit bleichen, erschöpften Soldaten, darunter Verwundete mit Augenklappen und Armbinden, die aus einem Lazarett kommen und notdürftig wiederhergestellt zurück an die Ostfront müssen. Sie teilen Tabak und Schnaps und tauschen Neuigkeiten aus. Die Rote Armee rückt vor, die Wehrmacht zieht sich aus der Ukraine und aus Weißrussland zurück nach Polen. Józef hört von durchbrochenen Fronten, Kesselschlachten und schweren Verlusten.
In Karlsruhe wechselt er den Zug, und als er weiter Richtung Osten fährt, erkennt er die Städte, die er ein Jahr zuvor auf dem Weg zur Grundausbildung durchquert hatte, nicht mehr wieder. Mannheim, Frankfurt, Erfurt liegen in Schutt und Asche, Brandmauern, zerborstene Kirchtürme und Fabrikschornsteine ragen aus Trümmerfeldern hervor. Das ist der Krieg, von dem Józef in Frankreich nichts gesehen hat. Hinter Frankfurt wird der Zug zum ersten Mal auf offener Strecke von amerikanischen Flugzeugen angegriffen, und Józef stürzt mit den anderen aus dem Wagen, um in einem Graben Schutz vor dem Maschinengewehrfeuer zu suchen.
Die Fahrt verzögert sich immer wieder. Nach vier Tagen kommt Józef endlich an. In Breslau war er mitten in der |82| Nacht noch einmal umgestiegen, in den Zug nach Kattowitz. Es ist die alte Strecke über Namslau, Kreuzburg und Rosenberg, auf der sein Vater dreißig Jahre zuvor für die Preußischen Staatseisenbahnen Fahrkarten kontrolliert hat. Hungrig und übermüdet steigt Józef am frühen Morgen in Lublinitz aus dem Zug. Auf dem Bahnhof kennt er niemanden mehr, von den früheren Kollegen seines Vaters hat keiner seine Arbeit behalten. Das Schild mit dem Namen der Stadt ist wieder einmal ausgetauscht worden. Lublinitz heißt jetzt Loben, der alte, deutsche Name war dem polnischen Lubliniec zu ähnlich gewesen.
Ein Bauer nimmt Józef auf dem Pferdewagen mit. Auch die letzten Erinnerungen an die polnische Zeit sind verschwunden. Lubliniec, Lublinitz, Loben ist eine deutsche Kleinstadt geworden. Der
piekarz
ist nun ein Bäcker, der Fleischer in Steblau verkauft nicht mehr
wędliny
, sondern Wurstwaren. Józefs Mutter Maria und seine Schwestern Anna, Hilda und Lena laufen ihm auf dem Körnerweg entgegen, in schwarzen Kleidern und mit rotgeweinten Gesichtern. Er kommt zu spät. Sein Vater ist am Tag zuvor begraben worden.
Maria kocht ihm eine Tasse Kaffee, irgendwie hat sie ein paar Bohnen aufgetrieben. Sie erzählt von der Beerdigung. Józefs Vater konnte nicht auf dem großen Friedhof der Stadt beerdigt werden, der im neunzehnten Jahrhundert südlich des Bahnhofs angelegt worden war. Der Zugang zu dem Gräberfeld ist seit Wochen gesperrt; die Deutschen bauen eine neue Straße. Also musste der Katholik Augustyn auf dem bereits seit Jahren nicht mehr genutzten evangelischen Friedhof beigesetzt werden, der außerhalb der Stadt in Richtung Tarnowitz liegt und noch aus preußischer Zeit |83| stammt. Die Nachbarn und die ehemaligen Arbeitskollegen, die Verwandten, die aus Bendawitz und Groß Stanisch und ganz Oberschlesien angereist waren, kamen auf dem Weg von der Nikolaikirche neben dem Marktplatz in ihrer schwarzen Kleidung ins Schwitzen. Der 23. Mai 1944 war ein warmer Tag, und sie waren fast erleichtert, als sie endlich am offenen Grab standen, im Schatten der Pappeln, die auf dem stillgelegten Friedhof in die Höhe geschossen waren.
»Dein Vater ist an seiner Angst gestorben«, sagt Maria zu Józef. Leise beginnt sie zu weinen. Als Józef ihr einen verlegenen Blick zuwirft, stellt er fest, dass die Tränen ihr nur über die eine Hälfte des Gesichts laufen. Ihr Glasauge bleibt trocken. »Geh dich waschen«, sagt Maria.
Drei Tage bleibt Józef in Steblau. Seine Schwestern weichen ihm in dieser Zeit nicht von der Seite. Anna ist jetzt siebzehn, Hilda fünfzehn und Lena vierzehn. Sie wollen alles über Frankreich wissen. Józef erzählt von den grünen Weinbergen in Toul, von
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