Die Legenden der Vaeter
die Bewohner der umstrittenen Gebiete selbst entscheiden zu lassen. Im Grenzland des Deutschen Reichs sollten Volksabstimmungen abgehalten werden. Die Vorbereitungen hatten kaum begonnen, als es im August des Jahres 1919 in Oberschlesien zu den ersten Ausschreitungen kam. Polnische Nationalisten riefen zum Aufstand auf, Freikorps und andere paramilitärische Einheiten lieferten sich die ersten Scharmützel.
Auf beiden Seiten kämpften Soldaten, die nach dem Ende des Krieges nicht in den Alltag zurückgefunden hatten. Viele der polnischen Aufständischen hatten kurz zuvor noch in den Reihen der Reichswehr gestanden. Zu ihnen gehörte auch Augustyn Koźlik, der als deutscher Soldat in den Krieg gezogen war und sich jetzt in einen polnischen Patrioten verwandelte. Kaum war er in Bendawitz angekommen, entfernte er die Abzeichen an seiner Uniform, |75| streifte sich die weiße Armbinde der Aufständischen um und zog noch einmal in die Schlacht. Diesmal kämpfte er für das Land, in dem die Sprache seiner Eltern und Großeltern gesprochen wurde.
In Oberschlesien tobte ein Bürgerkrieg. Tausende von Menschen kamen in den nächsten zwei Jahren bei den Auseinandersetzungen zwischen den polnischen Aufständischen und deutschen Freikorps ums Leben. Im März 1921 fand endlich das seit langem geplante Plebiszit statt. Eine knappe Mehrheit entschied sich für den Anschluss Oberschlesiens an Deutschland, doch die polnische Regierung weigerte sich, das Ergebnis anzuerkennen. Im Mai 1921 kam es in Oberschlesien noch einmal zu erbitterten Kämpfen, die nicht weit von Bendawitz in der Schlacht um den Wallfahrtsort Sankt Annaberg ihren Höhepunkt erreichten. Noch einmal, zwei Monate später, wurde ein Waffenstillstand ausgehandelt. Polen bekam das flächenmäßig kleinere Gebiet zugesprochen, gelangte aber in den Besitz der Industrieanlagen in Beuthen, Königshütte und Kattowitz. Es war ein Kompromiss, doch die polnischen Nationalisten feierten die Teilung Oberschlesiens als Sieg. Augustyn durfte sich als Held fühlen. Diesen Krieg hatte er gewonnen, auch wenn er sich erst einmal auf der falschen Seite der Grenze wiederfand. Colonnowska und die Siedlung Bendawitz blieben bei Deutschland.
In Siemianowitz war Józefs Vater dem Verband der schlesischen Aufständischen beigetreten. Er hatte ein Foto anfertigen lassen, das ihn in seiner Uniform und mit einem Orden an der Brust zeigte, und er traf sich regelmäßig mit seinen Kameraden, um beim Bier Erinnerungen an die Jahre nach dem Krieg aufzufrischen, an die Schlacht um den Annaberg |76| und an ihren Anführer Wojciech Korfanty, der in einer Bergarbeitersiedlung bei Siemianowitz aufgewachsen war. Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass sie bald noch einmal in den Krieg ziehen würden.
Im September 1939, am Morgen nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, waren in Siemianowitz mehr als hundert Männer mit Hakenkreuz-Armbinden zur
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gezogen. Die meisten von ihnen waren Einheimische, Deutsche, die nach dem Ersten Weltkrieg in Polen geblieben waren und sich in Vereinen, konspirativen Gruppen und Freikorps organisiert hatten. Sie waren mit Maschinenpistolen, Gewehren und Handgranaten bewaffnet und verschanzten sich in den Verwaltungsräumen. Eine Einheit der polnischen Armee nahm das Gelände unter Beschuss, und während Augustyn und seine Kollegen auf dem Bahnhof Truppentransporte abwickelten, hörten sie die unterschiedlichsten Gerüchte über die Schlacht um das Bergwerk. Die einen behaupteten, die Polen hätten den Auftrag, die Gruben zu sprengen, um Kohle und Erze nicht dem Feind zu überlassen. Dann hieß es wieder, die Deutschen selbst wollten die kriegswichtige Industrie auf polnischem Gebiet sabotieren.
Das Gefecht dauerte bis zum Nachmittag. Auf polnischer Seite standen nicht nur die regulären Truppen, sondern auch ehemalige Aufständische. Sie kämpften selbst dann noch weiter, als die polnische Armee sich zurückzog, weil die ersten Einheiten der Wehrmacht anrückten. Schließlich mussten sie aufgeben. Die Aufständischen wurden festgenommen, mit Stacheldraht gefesselt, durch die Stadt getrieben und erschossen.
|77| Es war Augustyns Glück, dass er an jenem Septembertag, an dem der Krieg begonnen hatte, zur Arbeit gegangen war und nicht wie viele seiner ehemaligen Kameraden zur
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hinausgelaufen war, um gegen die Deutschen zu kämpfen. Er kannte viele der Toten, und er wusste, dass die Erschießungen in Siemianowitz kein Einzelfall waren.
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