Die Legenden der Vaeter
und berichtet ihr von dem Gespräch auf dem Friedhof. »Er kämpft jetzt gegen die Deutschen.«
Anna hatte nie einen Zweifel daran gehabt, dass ihr großer Bruder zum Deserteur geworden war. Noch sechzig Jahre später sollte sie mir die Geschichte mit den gleichen Worten in ihrem Wohnzimmer in Steblau erzählen.
Ende Mai kehrt Józef zurück nach Brest. Er bleibt nur wenige Tage. In der Nacht vom 5. auf den 6. Juni 1944 nehmen die Schiffe der Alliierten Kurs auf die Normandie. Józefs Einheit wird Hals über Kopf aus der Bretagne in den Norden verlegt, auf die Halbinsel Cotentin. Sie sollen Saint-Lô sichern, einen wichtigen Knotenpunkt im Versorgungsnetz der Wehrmacht, doch als die Soldaten dort eintreffen, ist von der Stadt kaum noch etwas übrig. Amerikanische und englische Flugzeuge hatten Saint-Lô bereits in den Tagen vor der Invasion unter Beschuss genommen. Allein die mittelalterliche Kathedrale mit ihren meterdicken Mauern hat das Bombardement überstanden.
Die Fallschirmjäger verschanzen sich. Józefs Regiment bezieht auf einem Hügel im Osten der Stadt Stellung. Von hier aus lässt sich die Straße kontrollieren, die von Saint-Lô über La Malbrêche und Vaubadon nach Bayeux führt. Bei guter Sicht kann er sogar die Kriegsschiffe auf dem Ärmelkanal erkennen und die Rauchschwaden, die über der Küste aufsteigen. Die Alliierten liefern sich heftige Gefechte mit |87| den Deutschen, und Józef hört Tag und Nacht die dumpfen Geräusche der Panzerkanonen und Mörser, Feldhaubitzen und Raketenwerfer. Die Soldaten bauen ihre Stellung aus, flicken im Schatten eines Eichenwäldchens ihre Kleidung, reinigen ihre Karabiner und überziehen ihre Helme mit einem groben Drahtgeflecht, in das sie zur Tarnung Gräser und Zweige stecken.
Sie warten. Drei Wochen lang bleibt das Regiment in Stellung, und abends, wenn die Sonne tiefer steht, liegen die Soldaten auf dem Rücken im warmen Gras und zielen mit ihren Karabinern auf Enten und Gänse, die von der umkämpften Küste ins Landesinnere fliehen. Dann geht alles plötzlich sehr schnell. Anfang Juli brechen die Amerikaner aus ihrer Landezone aus. Sie stoßen in Richtung Süden vor, direkt auf Saint-Lô. Die ersten Einheiten greifen die Stadt von Westen her an, zunächst ohne großen Erfolg. Die Landschaft in der Umgebung ist von Hecken durchzogen, hinter denen die Deutschen sich tief eingegraben haben, um aus der Deckung heraus das Feuer auf die Angreifer zu eröffnen. Bauernhöfe dienen als Unterstände für Maschinengewehre, Entwässerungsgräben und tief ausgefahrene landwirtschaftliche Wege verhindern das Vorrücken der amerikanischen Panzer. Schließlich ändern die Amerikaner ihre Taktik. Sie versuchen, Saint-Lô einzukreisen. Eine der Etappen auf dem Weg zu diesem Ziel ist der Hügel, auf dem sich Józefs Regiment verschanzt hat.
Am 11. Juli 1944 ist es so weit. Am frühen Morgen greifen die Amerikaner die Stellungen der Wehrmacht im Osten an. Sie kommen mit schwerem Gerät. Von seinem Hügel aus sieht Józef, wie Planierraupen mit gewaltigen Schaufeln Sand in die Gräben schieben, um den amerikanischen Panzern |88| ihren Weg zu bereiten. Pioniertrupps säubern Minenfelder und sprengen mit TNT Lücken in die jahrhundertealten Erdwälle, die die deutschen Soldaten zu Befestigungsanlagen umfunktioniert haben, während die Artillerie ihnen Rückendeckung gibt und die Hecken und Waldverstecke mit Feuer überzieht.
Als Erstes fällt das Dorf Cloville am Fuß des Hügels in die Hände der Amerikaner. Von hier aus kämpfen sie sich durch Obstgärten und Weinstöcke den Hang hinauf. Am späten Nachmittag nehmen sie mit Phosphorgranaten und schwerer Artillerie das dreiecksförmige Waldstück unter Beschuss, das Józefs Regiment als Rückzugsgebiet dient. Die Kämpfe ziehen sich hin. Józef wird mit einem kleinen Trupp immer weiter in den Wald zurückgedrängt, er sucht Schutz hinter Bäumen und in Erdlöchern, feuert blindlings in die Abendsonne hinein, bis ihm die Munition ausgeht.
Dann kommt die Nacht. Der Wehrmachtsoldat Józef Koźlik verschwindet in der Dunkelheit, um Jahre später in den Erzählungen meines Vaters wieder aufzutauchen, als polnischer Soldat in einer britischen Uniform, so als ob das ganze Leben ein Maskenball ist.
|89| A n einem Samstag im Mai 1973 fuhr mein Vater nach Fürstenau. Meine Eltern lebten damals in einem alten Haus am Rand des Moors, eine gute Stunde Fahrt von der Stadt entfernt, in der mein Vater seine Kindheit verbracht
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