Die Legenden der Vaeter
Auf dem Bahnhof hörte er von SS-Trupps, die mit der Wehrmacht nach Polen gekommen waren und ehemalige Aufständische im Grenzgebiet auf den Dorfplätzen zusammengetrieben und hingerichtet hatten. Augustyn verbrannte seine Uniform, ließ seine Orden und Abzeichen verschwinden und mied den Kontakt mit alten Freunden aus der Zeit der Aufstände.
Von nun an hatte Augustyn Angst. Es war eine heimtückische, bösartige Angst, die ihn vom Ausbruch des Krieges an begleitete. An manchen Tagen hielt sie ihn so fest umklammert, dass er an nichts anderes denken konnte. Dann wieder zog sie sich zurück, folgte ihm fast unmerklich, wie ein unsichtbarer Begleiter, nur um ihn zuletzt, wenn er sie bei der harten Arbeit draußen an den Bahngleisen für ein paar Stunden fast völlig vergessen hatte, plötzlich aus dem Hinterhalt zu überfallen.
Es genügte ein polizeilicher Aushang mit einer Liste von Namen oder eine geflüsterte Unterhaltung über einen Nachbarn, der vor ein paar Wochen über Nacht verschwunden war, um Augustyn daran zu erinnern, dass er selbst als ehemaliger Aufständischer einer Verhaftung bisher nur knapp entronnen war. Auch er hätte eigentlich längst in einer der Verhörzellen im Keller des Gestapo-Hauptquartiers in Lublinitz landen müssen.
Józefs Schwester Anna erzählte mir, wie die Angst ihres |78| Vaters von Tag zu Tag größer geworden war. Augustyn schreckte mitten in der Nacht auf, weil er ein Geräusch gehört hatte und glaubte, dass die Gestapo vor der Tür stand und ihn abholen wollte. Wenn in Steblau die Nachbarn über die Zeit vor dem Krieg sprachen, schwieg er, um nicht auf seinen Wechsel von der deutschen auf die polnische Seite der Grenze angesprochen zu werden, und wenn Kollegen während der Mittagspause hinter vorgehaltener Hand über Freunde redeten, die in den Untergrund gegangen waren und sich jetzt in den Wäldern zwischen Lublinitz und Oppeln im Tal der Malapane vor den Deutschen verbargen, holte er seinen Tabaksbeutel heraus und drehte sich Zigaretten auf Vorrat, um nicht in das Gespräch einbezogen zu werden.
Die ständigen Magenschmerzen und die Appetitlosigkeit schob Augustyn auf seine Nervosität, auf den Schlafmangel und die harte Arbeit draußen am Bahndamm. Doch Anfang 1944, Józef war mittlerweile fast ein Jahr von zu Hause fort, ging es Augustyn schlechter. Er nahm immer weiter ab. Maria machte sich jetzt ernsthafte Sorgen. Die Versorgungslage war schlecht, die Lebensmittelkarten reichten nur bis zur Hälfte des Monats. Der Garten warf kaum noch etwas ab, die Hühner hatte sie längst geschlachtet. Also fuhr sie mit dem Fahrrad über die Dörfer und tauschte bei den Bauern Halsketten und Broschen aus ihrem Schmuckkästchen gegen Eier, Fleisch und Geflügel. Maria kochte Gänsesuppe, damit Augustyn wieder zu Kräften kam, doch das fette Fleisch bekam ihm nicht. Nach dem Essen wand er sich in Krämpfen auf dem Bett.
Im April des Jahres 1944 wog Augustyn nur noch fünfzig Kilo. In Italien setzten die Soldaten der Anders-Armee zum |79| Sturm auf Monte Cassino an, amerikanische und britische Truppen bereiteten sich auf die Landung in Frankreich vor, und im Osten wurden die Deutschen von der Roten Armee immer weiter zurückgedrängt. Nicht mehr lange, und die Front würde in Polen angekommen sein. Augustyn ahnte, dass er das Ende des Krieges nicht mehr erleben würde. Am 24. April machte er sich auf den Weg zum Amtsgericht. In seiner alten ledernen Aktenmappe trug er den Vertrag bei sich, den er im Sommer 1939 mit der Witwe des Grenzbeamten Szafrański geschlossen hatte. Vier Jahre nach dem Kauf ließ er das Grundstück in Steblau im Grundbuch eintragen. Als Miteigentümerin gab er seine Ehefrau Maria an, damit nach seinem Tod keine Zweifel daran aufkamen, dass sie die rechtmäßige Besitzerin von Haus und Grundstück war.
Erschöpft kehrte er an diesem Tag nach Hause zurück. Das Abendessen lehnte er ab. Augustyn konnte keine feste Nahrung mehr zu sich nehmen. Mitte Mai erbrach er Blut. Maria rief den Arzt. Die Untersuchung dauerte nicht lange. Der Arzt sah Augustyn in den Hals, roch an seinem Atem, tastete ihm mit kalten Händen den Bauch ab. Augustyn schrie vor Schmerz laut auf.
Die Operation wurde für den 19. Mai angesetzt. Am späten Vormittag wurde Augustyn im großen Operationssaal des Krankenhauses von Lublinitz mit Äther betäubt. Ein Chirurg öffnete seinen Brustkorb und stellte fest, dass ein Tumor Augustyns Magen und seine Speiseröhre befallen hatte. Es war
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