Die Legenden der Vaeter
hatte. In ein paar Tagen sollte er seine erste Stelle als Lehrer antreten, und er nutzte die letzten freien Tage für einen Besuch bei seinen Großeltern. Er hatte das Seitenfenster des VW Käfer heruntergekurbelt, und die Luft roch nach Sommer. Das karge Torfmoor mit seinen ärmlichen Straßensiedlungen und den mühsam trockengelegten Äckern hatte er bald hinter sich gelassen. Jetzt fuhr er hinter Treckern und Milchlastern langsam über schmale Landstraßen, die an alten Gehöften vorbei in die Landschaft führten, in der er aufgewachsen war.
Als ich dem Weg auf einer Karte mit dem Finger folgte, waren es die hart klingenden Namen der niedersächsischen Dörfer und Kleinstädte, die mich zurück in die Welt der Geschichten meines Vater versetzten, Bersenbrück und Bramsche, Ankum, Nortrup, Karwisch. Jeder dieser Orte war für mich mit einer Erinnerung meines Vaters verbunden. In Quakenbrück war er zur Schule gegangen, in Rheine hatte seine Mutter Marianne in der Eisenwarenhandlung gearbeitet. In Schwagstorf hatte mein Vater mit seinem Großvater Arnold einen Bauern besucht, der eine Aussteuertruhe in |90| Auftrag geben wollte, in Meppen hatte er Fußball gespielt, und nach Lonnerbecke war mein Vater oft allein mit dem Fahrrad an der Bahnstrecke entlanggefahren, zu Verwandten, die dort einen Bauernhof hatten, um Eier, Butter oder Milch zu holen.
Inmitten dieser Orte lag Fürstenau. Mit der Bundeswehrkaserne, in der Marianne zehn Jahre zuvor als Sekretärin gearbeitet hatte, war der Wohlstand eingezogen. Aus dem kleinen, verträumten Ort mit den engen Gassen und der Burgruine war eine moderne Kleinstadt geworden, mit frisch geteerten Straßen und aufgeräumten Wohnsiedlungen. Und auch bei den Großeltern meines Vaters hatte sich einiges verändert. Seit mein Vater das Abitur gemacht und mit dem Studium begonnen hatte, waren Arnold und Anna allein. Arnolds Bruder Rudolf und seine Schwester Lore waren längst ausgezogen, Marianne hatte geheiratet, den Mann, den ich einmal meinen Großvater nennen würde, und ihre jüngere Schwester Eleonore hatte ebenfalls das Haus verlassen.
Die Tischlerei hatte seit Ende der sechziger Jahre kaum noch Gewinn abgeworfen. Arnold, der den Betrieb als junger Mann übernommen hatte, verfügte nicht über das Talent, Geld zu verdienen. Er hatte eine sichere Hand, wenn es um Schnitzarbeiten ging, doch die Geschäfte führte er nachlässig. Seine Auftragsbücher waren Kalender, in denen er mit einem Zimmermannsbleistift die Namen der Kunden und die gewünschten Arbeiten eintrug. Den Lohn für die Gesellen und Lehrlinge zählte er am Monatsende aus seiner Brieftasche ab, genau wie das Haushaltsgeld für Anna. Niemand hatte Einblick in seine Buchführung, selbst ihm war es nicht aufgefallen, dass die Tischlerei zuletzt seine gesamten |91| Ersparnisse aufgezehrt hatte. Es gab keine Rücklagen, keine Lebensversicherung, nicht einmal ein gut gefülltes Versteck mit Schwarzgeld wie in anderen Handwerksbetrieben.
Dann hatten Nachbarn Arnold eines Nachmittags auf dem Parkplatz des neuen Supermarktes am anderen Ende der Stadt angetroffen. Er wirkte verwirrt, und sie mussten ihn zurück nach Hause begleiten. Zuerst hieß es nur, es sei das Alter, doch allen war klar, dass er die Tischlerei nicht würde weiterführen können. Verträge wurden geschlossen. Mariannes Mann übernahm Grundstück, Haus und Werkstatt, und Arnold und Anna bekamen ein lebenslanges Wohnrecht zugesprochen sowie eine Leibrente. Auf den ersten Blick wirkte es wie eine gute Lösung. Die Werkstatt wurde verpachtet und von einem Tischler weitergeführt, der für ein Antiquitätengeschäft in Osnabrück alte Möbel aufarbeitete. Das Wohnhaus wurde umgebaut. Die verspielte Fassade verschwand hinter Ziegelsteinen, und aus der Bürgervilla im Stil eines englischen Landhauses wurde ein schlichtes Mehrparteienhaus mit zwei Mietwohnungen im Obergeschoss.
Auch die Waschküche und der Stall waren ausgebaut worden. Hier bekam Karl sein Zimmer, Arnolds anderer Bruder, der als Einziger der Verwandten im Haus geblieben war. Mein Vater schaute immer als Erstes bei ihm vorbei, wenn er nach Fürstenau kam. Überall stapelten sich Noten, Westernheftchen, zerlesene Taschenbücher und alte
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. Karls zerbeulte Trompete stand auf einem Tischchen in der Ecke, und auch den Lehnstuhl gab es noch, in dem er schon früher den ganzen Abend gesessen und gelesen hatte. Das einzige Zugeständnis an die neuen Zeiten war eine
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