Die Legenden der Vaeter
Überreste des Lebens zu besichtigen, das ihre Eltern oder Großeltern hier vor dem Krieg geführt hatten.
Genealogia
, das polnische Wort für Familienforschung, ersparte mir oft längere Erklärungen, auch wenn es |71| nicht jeder, der hier lebte, gern hörte. Mit einem Fotoapparat und einer der zweisprachigen Karten in der Hand, in der noch die alten Grenzen eingetragen waren, klapperte ich in Bendawitz und den anderen Siedlungen rund um Groß Stanisch die Häuser ab, um mich in gebrochenem Polnisch danach zu erkundigen, ob vor dem Krieg möglicherweise Verwandte von mir hier gewohnt hätten. Manchmal vertrieb mich ein Hund, bevor ich überhaupt mit jemandem gesprochen hatte.
Ich sammelte Geschichten, über einen preußischen Hilfsschaffner, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in Oberschlesien den polnischen Aufständischen anschließt, über eine junge Frau, die ein Glasauge trägt, weil ein enttäuschter Liebhaber mit einem Luftgewehr auf sie geschossen hat, und über eine Familie, die von Deutschland nach Polen zieht und ihren Wohnort dazu nur ein paar Kilometer nach Osten verlegen muss. Ich fuhr nach Siemianowitz, um an einem heißen Sommertag rund um die Eisenhütte zu laufen, die schon vor Jahren stillgelegt worden war, bis ich in der
ulica Piastowska
an der Hausnummer sieben stand, vor einem dunkelroten Backsteinbau mit drei Geschossen, in dem Józef zehn Jahre lang mit seinen Eltern und seinen Geschwistern im ersten Stock gewohnt hatte. Niemand öffnete, als ich an der Wohnungstür klingelte, und so warf ich aus einem der Fenster im kühlen Treppenhaus nur einen Blick in den Hinterhof. Ein Bretterzaun, ein Obstbaum, daneben ein Schuppen. Bunte Wäsche hing an einer Leine, Tischtücher, Bettdecken und Hemden bewegten sich sanft im Wind. Die Zeit schien stillzustehen.
Abends in meinem Hotelzimmer in Lublinitz machte ich mir Notizen, und manchmal hielt ich inne, weil ich glaubte, |72| im Kopf die Stimme meines Vaters zu hören, der mir von seiner Kindheit erzählte. Ich war auf der Suche nach meinem polnischen Großvater, aber insgeheim hoffte ich, hier, mitten in einem fernen, fremden Land, den Weg zurück in die vertraute Welt von Fürstenau zu finden, in die mein Vater mich einst mitgenommen hatte. Doch erst einmal führten meine Recherchen mich weit zurück in die Geschichte Oberschlesiens und in die Vergangenheit der Familie Koźlik.
|73| J ózefs Großvater Carl Koźlik war im neunzehnten Jahrhundert aus Läsen nach Bendawitz gezogen. Er war der Sohn eines armen Bauern und sprach genau wie seine Nachbarn Polnisch mit schlesischem Dialekt. »Wasserpolnisch« nannten die preußischen Verwaltungsbeamten, die aus Berlin in die Provinz versetzt worden waren, diese Sprache, in der sich entlang der Oder und der Malapane deutsche, tschechische und böhmische Wörter mit dem polnischen Vokabular mischten.
Als Carls Sohn Augustyn in die Schule kam, hatte er als künftiger Untertan des Königs und Kaisers Deutsch lernen müssen. Es fiel ihm nicht schwer, und er nutzte seine Chance. Anstatt als einfacher Arbeiter in die Hütte zu gehen und am Hochofen zu schwitzen, fing Augustyn 1911 bei den Preußischen Staatseisenbahnen an. Drei Jahre lang kontrollierte er Fahrkarten, dann begann der Erste Weltkrieg. Augustyn fertigte jetzt Züge ab, die Soldaten, Waffen und Munition an die Front nach Russland transportierten und Stahl aus Colonnowska in die Rüstungsfabriken im Westen des Reiches schafften. 1917 wurde er selbst eingezogen, mit Pelzmütze, geschnürter Jacke und Säbel, in der traditionellen Uniform eines Husaren der preußischen Kavallerie.
Im Herbst 1918 nahm Augustyn an den letzten, schweren |74| Abwehrgefechten der deutschen Truppen in Flandern teil. Im November kehrte er nach der Unterzeichnung des Waffenstillstands heim nach Bendawitz, doch hier war der Krieg noch nicht vorbei. Vier Wochen zuvor war in Warschau die Republik ausgerufen worden. Polen, das Land, das die europäischen Großmächte im achtzehnten Jahrhundert unter sich aufgeteilt hatten, war wiederauferstanden. Über die Grenzen des neuen Staates wurde heftig gestritten, und als Augustyn von den verwüsteten Schlachtfeldern in Frankreich und Belgien zurückkam, hatte sich der Konflikt in seiner Heimat zugespitzt.
Die polnische Regierung verlangte die Angliederung Ostpreußens, Westpreußens, der Provinz Posen und ganz Oberschlesiens an den neuen Staat. Deutschland lehnte diese Forderungen ab, und die Siegermächte einigten sich darauf,
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