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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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den Palmen und den römischen Ruinen in Nîmes, von dem ständigen Wind, dem rauen Meer und der strahlend weißen Gischt an der Atlantikküste.
    Józef gibt sich Mühe. Er streut ein paar französische Wörter ein, die er in den vergangenen Monaten aufgeschnappt hat,
pain
,
vin
,
guerre
, doch als Anna, die Älteste, ihn mit einem Augenzwinkern nach den Mädchen in Frankreich fragt, winkt er verlegen ab. Er zeigt seinen Schwestern lieber das Abzeichen der Fallschirmspringer, einen grimmigen silbernen Adler, der sich mit angelegten Flügeln zu Boden stürzt und in seinen Krallen ein Hakenkreuz trägt. Dass Józef bisher nur auf einem Kasernenhof von einem zwei Meter hohen Holzturm gesprungen ist, verschweigt er seinen |84| Schwestern, genau wie den Abend, den er zusammen mit zwei anderen polnischen Wehrmachtsoldaten in einem schäbigen Bordell in Reims verbracht hat. Er hat wenig zu erzählen, und er hat Angst davor, dass er zu klein sein könnte für die Welt da draußen, dass das Leben ihn einfach überrollt, so wie der Krieg über die deutschen Städte hinwegfegt, und dass auch von ihm dabei am Ende nichts übrigbleiben würde.
    Vielleicht ist Józef bei seinem kurzen Besuch zu Hause zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass er sich in Zukunft ein bisschen größer machen muss, als er in Wirklichkeit ist. Er erinnert sich an die Geschichten, die sein Ausbilder in der Kaserne in Reims erzählt hatte, ein Fallschirmjäger der ersten Stunde, der mit einem zerschossenen Arm und einer Augenklappe vom Einsatz in Kreta zurückgekommen war. Am schlimmsten sei der Absprung bei Nacht, erklärt Józef seinen Schwestern in der Küche in Lublinitz. Man falle aus der Luke in die Dunkelheit, die kalte Luft pfeife einem in den Ohren, und den Boden erkenne man erst kurz vor dem Aufprall. »Man denkt jedes Mal, das ist das Ende«, sagt er, so lässig, wie es eben geht.
    Maria hat Józefs Kleidung ausgebürstet und gewaschen, und am Tag vor seiner Abfahrt drängeln die Schwestern ihn so lange, bis ihr Bruder ihnen erlaubt, die Uniform anzuprobieren. Während die Mädchen sich umziehen, sucht Józef nach dem Fotoapparat seines Vaters. Er findet ihn in einem Schrank im Schlafzimmer der Eltern, zusammen mit zwei unbenutzten Filmen und einem Umschlag vom Fotografen Poznański, der sein Atelier in Lublinitz gleich hinter dem Marktplatz hat. Der Umschlag enthält Aufnahmen, die Augustyn kurz nach dem Umzug der Familie gemacht |85| hat. Die Fotos sind mitten im Krieg entstanden, aber es sind seltsam friedliche Bilder, von Nachbarskindern, die mit der kleinen Lena in der Frühlingssonne auf dem Sandweg vor dem neuen Haus spielen, von Anna und Hilda, die im Gras sitzen, und eines von Józef selbst, auf dem er fünfzehn Jahre alt ist. Er lehnt am Gartenzaun, eine Hand in der Hosentasche, und blinzelt in dies viel zu helle Licht.
    Józef legt die Bilder zurück in den Umschlag, nimmt den Fotoapparat und geht hinunter in den Garten. Die drei Mädchen posieren hinter dem Haus in der Fliegerbluse der deutschen Luftwaffe, die schmale Mütze fest auf das hochgesteckte Haar gedrückt. Sie verwandeln sich in lachende Wehrmachtsoldaten, und Hilda, sie ist von den dreien die Verwegenste, schlüpft für die Kamera sogar in die schweren, hochgeschnürten Stiefel. Maria ist an diesem Tag wieder einmal mit dem Fahrrad unterwegs, um auf den Bauernhöfen rund um Steblau ein halbes Pfund Butter und ein paar Eier aufzutreiben. Als sie zurückkommt und Józefs Schwestern ihr von dem Mummenschanz im Garten erzählen, wird sie wütend. »Euer Vater ist gerade erst begraben worden«, fährt sie die Mädchen an.
    Am Abend fährt Józef noch einmal mit Anna hinten auf dem Fahrradgepäckträger hinaus zum Friedhof. »Lange werde ich die Uniform ohnehin nicht mehr tragen«, erklärt er seiner Schwester, als sie die welken Blumen am Grab des Vaters aufsammeln. Er erzählt ihr von den Gerüchten, die unter den Polen und Schlesiern in seiner Einheit die Runde machen, von den Überläufern, die sich den Briten und Amerikanern angeschlossen haben und auf der Seite der Alliierten gegen die Deutschen kämpfen. »Ich warte nur auf die richtige Gelegenheit«, sagt Józef, als sie zurück zum |86| Fahrrad gehen. Im Juli, er ist längst zurück in Frankreich, trifft ein Brief in Steblau ein. Es ist ein Formschreiben der Wehrmacht. Maria Koźlik wird mitgeteilt, dass ihr Sohn Józef seit Anfang des Monats als vermisst gilt. Anna tröstet ihre Mutter. »Er ist nicht tot«, sagt sie

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