Die Legenden der Vaeter
Kochplatte, auf der er sich das Essen aufwärmte. |92| Früher hatte er den Teller mit den Bratkartoffeln, den mein Vater ihm jeden Abend nach oben brachte, einfach auf den Kohleofen gestellt.
Auch in der Küche gab es jetzt elektrischen Strom, aber Anna hatte darauf bestanden, dass der alte Herd, der mit Holz befeuert wurde, für Notfälle blieb. Dampf stieg aus den Töpfen, und Anna trug die gleiche weiße Kittelschürze, die sie immer getragen hatte, die Wangen rot vom Kochen, die Haare streng zu einem Dutt zusammengesteckt. Es gab Braten, Kartoffeln und grüne Bohnen aus dem Garten, und zum Nachtisch stellte Anna eine riesige Schüssel mit Vanillepudding auf den Tisch und öffnete ein Glas mit Erdbeeren, das letzte, das vom vergangenen Jahr noch übrig war. Alles war wie früher. Nach dem Essen legte sich Arnold im Wohnzimmer zum Mittagsschlaf auf die Chaiselongue, neben sich die russische Grammatik, in der er immer noch gelegentlich blätterte, obwohl seit dem Krieg, der ihn nach Russland geführt hatte, fast dreißig Jahre vergangen waren.
Mein Vater blieb allein mit Anna in der Küche. Er half beim Abwasch, dann saßen sie am Tisch und sahen aus dem Fenster hinüber zur Werkstatt. Betrieb war keiner, am Samstag wurde nicht gearbeitet. Mein Vater erzählte von der Schule, an der er demnächst unterrichten würde, Anna erkundigte sich nach mir, ihrem Urenkel. Und dann, plötzlich, lag ein Briefumschlag vor meinem Vater auf dem Küchentisch, ein mit der Hand aufgerissener Luftpostumschlag aus bläulichem, durchscheinendem Papier, mit mehreren Briefmarken und farbigen Stempelabdrücken. Er war an Arnold adressiert, in einer akkuraten Handschrift mit leicht nach rechts gebeugten Buchstaben. Der Name des Absenders stand auf der Rückseite: Józef Koźlik.
|93| Ich habe nie herausgefunden, wie der Brief auf den Küchentisch gekommen war. Mein Vater war sechsundzwanzig Jahre alt, er war verheiratet, und er hatte mittlerweile selbst ein Kind. Vielleicht hatte er an jenem Samstag seine Großmutter zum ersten Mal nach seinem Vater gefragt, vielleicht hatte sie von selbst angefangen, darüber zu sprechen. Sicher ist nur, dass er im Mai 1973 den Namen seines Vaters erfuhr. Er kannte jetzt sogar seine Anschrift:
ulica Jagusia 5, Steblów, Lubliniec.
Der Brief sei bereits im vergangenen Jahr bei ihnen angekommen, sagte die Anna. »Deiner Mutter«, fügte sie hinzu, »haben wir nichts davon gesagt.«
Mein Vater steckte den Umschlag in die Tasche seines Hemds. Anna setzte Wasser für Kaffee auf und weckte Arnold, der mit der zerlesenen Grammatik in den Händen eingeschlafen war, und als sie zu dritt in der Küche saßen und den Zitronenkuchen aßen, den Anna schon früher immer gebacken hatte, drehte sich das Gespräch um Nachbarn und Bekannte. Die alte Ordnung war wieder hergestellt. Über Józef wurde in Fürstenau nicht gesprochen. Dabei hatte er einmal selbst fast zur Familie gehört.
Mit dem alten Haus am Rand des Moors, in dem meine Eltern damals lebten, verbinden mich nur eine Handvoll Erinnerungen. Die Dielen knarrten, das Dach war undicht und musste immer wieder geflickt werden, und an den Fensterrahmen bröckelte der Kitt. Wenn es zu frieren begann, waren die Scheiben am frühen Morgen von matt glänzenden Eisblumen bedeckt. Kondenswasser lief in Pfützen auf den Fensterbänken zusammen, und im Winter breitete mein Vater im ganzen Haus Handtücher aus, die er tropfnass |94| wieder einsammelte und im Badezimmer über der Wanne auswrang. Im Sommer gab es den Garten mit seinen knorrigen Apfelbäumen, deren ausladende Äste von Lattenkreuzen gestützt wurden. Mücken tanzten, und abends schossen Schwalben durch die Luft. Sie hatten ihre Nester in dem halbzerfallenen Schafstall gebaut, der zwischen Bäumen und Büschen neben dem Haus stand.
Die Bilder, die mir im Gedächtnis geblieben sind, tragen die gleichen verwaschenen Farben wie die Fotografien in den Familienalben, die bei meinen Eltern heute dicht an dicht im Schrank stehen, säuberlich beschriftet und nach Jahren geordnet. Fotos aus der Kindheit meines Vaters kannte ich nicht, nur seine Erinnerungen, die er mit mir geteilt hatte und die mir bis heute vertrauter sind als die Erinnerungen an meine eigene Kindheit.
Den Brief aus Polen hatte mein Vater in Annas Küche nur überflogen. Erst zu Hause las er ihn gründlich, am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, von dem aus er in den Garten hinaussehen konnte, auf eine Reihe hochaufgeschossener Fichten und
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