Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
Vom Netzwerk:
abgesetzt, und in einer halsbrecherischen Aktion gelangten die polnischen Soldaten bei Nacht über den Fluss, um den Rückzug der Engländer zu sichern. »Meine Einheit erlitt schwere Verluste«, schrieb Józef an meinen Vater. Die Zahl der Opfer ist überliefert: Von den knapp 1700 polnischen Fallschirmjägern waren 93 gefallen, 173 galten als vermisst, und 346 Soldaten waren schwer verletzt nach Großbritannien zurückgekehrt. Józef konnte froh sein, dass er den Einsatz heil überstanden hatte.
    Die 1. Unabhängige Fallschirmjägerbrigade blieb nach der Katastrophe von Arnheim zunächst in Ringway. Erst am 12. Mai 1945, vier Tage nach der Kapitulation, wurden die Soldaten erneut in Marsch gesetzt. Im Nordwesten |101| Deutschlands waren beim Vormarsch der alliierten Truppen zahlreiche Lager mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern befreit worden. Franzosen, Holländer und Belgier waren nach Hause geschickt worden, aber die Polen mussten bleiben. Stalin hatte darauf bestanden, dass zunächst sämtliche russischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter zurückgeführt wurden, bevor die sowjetische Besatzungszone für die Durchreise anderer Staatsbürger geöffnet werden würde. Also beschlossen die Briten, dass sich vorerst die polnischen Fallschirmjäger um ihre Landsleute kümmern sollten. Die Brigade wurde nach Deutschland verlegt. Doch bis Józef Koźlik meine Großmutter Marianne kennenlernte, sollte noch einiges geschehen.
    Józef kommt nach Emmerich. Die Stadt liegt am Rhein, gleich an der niederländischen Grenze. Die polnischen Fallschirmjäger haben den Auftrag, die Lager in der Umgebung zu betreuen. Was sie dort zu sehen bekommen, ist schlimmer als alles, was sie sich vorgestellt haben. Wenn sie mit ihren Jeeps durch das Lagertor fahren, wanken ihnen abgemagerte Gestalten entgegen, Männer in zerschlissenen Mänteln, Frauen in gestreifter Gefängniskleidung und Kinder, die mit löchrigen Schuhen über den aufgeweichten Lehmboden stapfen. Die polnischen Soldaten, die von ihren zerlumpten und ausgehungerten Landsleuten wie Helden empfangen werden, verteilen Wolldecken, geben Suppe aus und ziehen Bretterwände hoch, hinter denen provisorische Desinfektionsstationen eingerichtet werden.
    Józef versucht sich jedes Mal vor dem Rundgang durch die stickigen Baracken zu drücken, in denen die Kranken, die zu schwach sind, um sich hinaus auf den Hof zu schleppen, |102| auf verschmutzten Strohsäcken liegen und die Fallschirmjäger mit fiebrigen Augen anstarren. Egal, in welches Lager die polnischen Soldaten kommen, immer hängt der Geruch von Tod und Verwesung in der Luft.
    Wann sie zurück nach Polen dürfen, das ist die Frage, die Józef und den anderen Soldaten am häufigsten gestellt wird. Offiziell gelten die ehemaligen Lagerinsassen als
displaced persons
, kurz
DPs
, als Heimatlose, die außer Lebensmittelpaketen, Kleiderspenden und jeder Menge Bürokratie nichts zu erwarten haben. Die polnischen Fallschirmjäger stellen Identitätskarten aus und legen endlose Namenslisten an, die sie an die britische Militärverwaltung und die Hilfsorganisationen der UNO weiterleiten. In den Lagern breitet sich Enttäuschung und Wut aus. An den Kontrollposten, die sie zusammen mit britischen und kanadischen Militärpolizisten entlang von Flüssen und Kanälen einrichten, greifen die polnischen Fallschirmjäger ganze Gruppen von polnischen Flüchtlingen auf, die sich auf eigene Faust den Weg nach Hause bahnen wollten, zurück zu ihren Familien nach Jarosław, Biała Rawska oder Brodnica.
    Täglich werden neue Lager entdeckt. Allein in dem Gebiet um Emmerich werden Ende Mai über 24   000 polnische
DPs
gezählt, und weil es immer noch keinen konkreten Termin für ihre Rückführung gibt, beschließt ein überforderter kanadischer Offizier, im Nordwesten der britischen Besatzungszone eine Kolonie für heimatlose Polen einzurichten.
     
    Nördlich von Münster verläuft die Ems parallel zur niederländischen Grenze. Hier liegt das Emsland, eine unwegsame, spärlich besiedelte Moorlandschaft. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs waren die sumpfigen Flusstäler systematisch |103| trockengelegt worden. Der preußische Staat hatte im großen Stil Flächen aufgekauft. Arbeitslose Jugendliche, die sich für einen freiwilligen Arbeitsdienst verpflichtet hatten, hoben Gräben aus und legten Kanäle an. 1933 verwandelte sich das Emsland in eine Strafkolonie. Die Nationalsozialisten richteten Lager für politische Gefangene ein, darunter das

Weitere Kostenlose Bücher