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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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warme Luft, die über den Feldern aufsteigt, über ihre bloßen Arme streicht, berühren sich wie zufällig ihre Hände. Marianne erzählt Józef von der Tischlerei, von ihrem Vater Arnold, der in den letzten Tagen des Krieges in britische Gefangenschaft geraten ist und jetzt in einem Lager in Belgien auf seine Entlassung wartet, und von ihrer Mutter Anna, mit der sie ständig aneinandergerät. Marianne ist siebzehn. Sie hat keine Ausbildung, die Schule musste sie während des Krieges verlassen. Sie verbringt die Tage zu Hause und hilft im Haushalt. Sie putzt, wischt, bohnert und schält Kartoffeln, sie gräbt die Beete im Garten um und jätet Unkraut, wie ein Dienstmädchen, beklagt sie sich bei Józef.
    In den vergangenen Wochen ist die Situation in dem großen Haus unerträglich geworden. Allein im ersten Stock teilen sich ein Dutzend Menschen eine Handvoll Zimmer, |109| Verwandte, die ausgebombt worden sind, außerdem eine vierköpfige Flüchtlingsfamilie aus Hannover, die ihre Wohnung verloren hat und nach einer Irrfahrt quer durch Norddeutschland in Fürstenau gelandet ist. Die Baracken am Schlossteich waren längst überfüllt, also wurde die Familie in Mariannes Elternhaus einquartiert. Und auch im Erdgeschoss ist es eng geworden. Im Herrenzimmer, in dem das Klavier steht, musste Anna Anfang Juni einen polnischen Stabsoffizier unterbringen, einen älteren Mann namens Adamczyk, der selbst im Sommer einen langen, schweren Mantel trägt. Und im Wohnzimmer schläft seit Wochen die Frau von Lehrer Tatchen. Ihr Mann hatte während des Krieges das Amt des Kassenwarts in der Ortsgruppe der NSDAP inne und war nach der Einnahme der Stadt von den Briten in einem Lager in der Nähe von Meppen interniert worden. Seine Wohnung war erst von englischen und dann von polnischen Soldaten in Beschlag genommen worden, und weil seine Tochter Karla mit Marianne befreundet ist, hat Anna die Frau des Lehrers, Karla und ihre jüngere Schwester bei sich aufgenommen.
    Als die Engländer noch in der Stadt waren, hatten die beiden Freundinnen oft stundenlang hinter einem der Sprossenfenster im ersten Stockwerk gestanden, die britischen Militärpolizisten gegenüber am Bahnhof beobachtet und ihnen Namen gegeben, die sie aus dem Englischunterricht in der Schule kannten, John, Alec, Tim. Als der polnische Soldat Józef Koźlik immer öfter am Gartentor auftaucht, hilft Karla Marianne dabei, Ausreden zu erfinden, damit sie das Haus verlassen kann. Die beiden jungen Frauen brechen gemeinsam auf, um eine Nachbarin zu besuchen, die Karla bei einer Näharbeit zur Hand gehen will, und trennen sich |110| dann mit einem Augenzwinkern am Bahnübergang, an dem Józef mit einer Zigarette in der Hand an einem Baum lehnt.
    Er selbst erzählt nicht viel von sich. Einmal, als Marianne ihn fragt, warum er, ein Pole, Deutsch spricht, zeichnet er eine Landkarte in den Sand, um ihr zu zeigen, wo er herkommt. Doch während er mit einem dünnen Zweig die Umrisse Oberschlesiens nachzieht, merkt er, dass das Haus in Steblau, der Bahnhof von Lublinitz und die Halden und Hochöfen von Siemianowitz in weite Ferne gerückt sind, genau wie Groß Stanisch und Colonnowska, die Orte, an denen er die ersten Jahre seiner Kindheit verbracht hat. Józef wirft den Zweig zur Seite und wischt die Zeichnung mit dem Fuß aus. Er erzählt Marianne nicht, dass er auf der deutschen Seite der Grenze geboren wurde und dass er genau wie ihr Vater als Wehrmachtsoldat in den Krieg gezogen ist, und er ist froh, als sie keine weiteren Fragen stellt. An diesem Nachmittag küssen sie sich zum ersten Mal.

 
    |111| I ch hatte einen langen Umweg machen müssen bei meiner Suche. Doch am Ende war ich auf Józefs Spuren tatsächlich wieder in Fürstenau angekommen. Es war die Stadt, die ich aus den Erzählungen meines Vaters kannte, mit dem Schlossteich und den schmalen Gassen, dem Bahnhof und dem Haus mit der Tischlerei. In seinen Erzählungen war Fürstenau zu einem verzauberten Ort geworden, mit verwunschenen Plätzen und geheimen Verstecken, unterirdischen Gängen und verborgenen Wegen, die zwischen den Häusern und Gärten immer tiefer in das Land seiner Kindheit führten. Doch als ich mich in die Briefe vertiefte und mit Verwandten sprach, die sich noch an die Besatzungszeit erinnern konnten, erstand vor meinem inneren Auge zunächst eine andere, fremde Stadt.
    Die polnischen Soldaten haben Wachposten aufgestellt, am Postamt, an der Ziegelei, am Sägewerk. Der Bahnhof wird zum Sperrgebiet

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