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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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dunkler Rhododendronsträucher, die zu dieser Jahreszeit schwere, violette Blüten trugen. »Sehr geehrter Herr …«, so begann der Brief, den Józef am 25. Juli 1972 an Arnold geschrieben hatte. »Nach etlichen Jahren erlaube ich mir, ein paar Worte an Sie zu richten.« Zwei Seiten steckten in dem Umschlag. Der Brief war mit der Hand geschrieben, mit Formulierungen, die aus einer anderen Zeit zu stammen schienen, und in der Orthographie eines Menschen, der eine Sprache besser sprach, als er sie zu Papier brachte: »Sie müssen meine Fehler entschuldigen, aber ich habe seit zwanzig Jahren kein Deutsch mehr geschrieben.«
    |95| Der Brief lag in der Zigarrenkiste, zusammen mit den anderen Briefen, die Józef in den nächsten zehn Jahren an meinen Vater schreiben sollte. Für mich war die größte Überraschung, dass Józef sich in der kleinen Welt rund um die Tischlerwerkstatt in Fürstenau so gut auskannte, einer Welt, die für mich bis dahin ganz allein meinem Vater und mir gehört hatte. Er erkundigte sich nach der Stadt, deren Fassaden, als er sie das letzte Mal gesehen hatte, offenbar noch die Spuren des Krieges trugen. Er hoffe, schrieb er, dass die zerstörten Häuser und auch das Rathaus inzwischen wieder aufgebaut worden seien. »Und was gibt es Neues in der Familie?« Es fielen Namen, die mein Vater gut kannte und die auch mir durch seine Erzählungen vertraut waren. Józef wollte wissen, wie es Eleonore gehe, die er in seinem Brief Lorchen nannte, er fragte nach Karl, der in der Beizstube gearbeitet hatte, nach Rudolf, dem Polsterer, der sich immer mit Anna gezankt habe, und nach der Urgroßmutter: »Lebt sie noch?« Und er fragte nach Marianne.
    Nichts hatte darauf hingedeutet, dass meine Großmutter mit dem polnischen Soldaten mehr verbunden hatte als eine flüchtige Bekanntschaft, der ein Kind entsprungen war. Der Brief, den Józef an Arnold geschrieben hatte, erweckte einen anderen Eindruck. Plötzlich schien ein gemeinsames Leben auf, zu zweit und zu dritt im Kreis einer großen Familie.
    »Ich würde mich freuen, mehr über meinen Sohn zu erfahren«, fuhr Józef fort. »Hat er eine Frau gefunden, was hat er für einen Beruf? Vielleicht könnten Sie mir einige Fotos schicken?« Er habe in letzter Zeit mehrmals versucht, über das Rote Kreuz an die Adresse seines Sohnes zu gelangen, sei aber jedes Mal an ihn, den Großvater, verwiesen worden. »Sie müssen entschuldigen, dass ich so viele |96| Jahre nicht geschrieben habe. Ich wollte meinem Sohn, als er klein war, mit meinen Briefen keine Schmerzen bereiten. Aber jetzt möchte er doch bestimmt seinen Vater kennenlernen. Ich würde darum gern Verbindung mit ihm aufnehmen.«
     
    Als Kind durfte ich manchmal im Arbeitszimmer meines Vaters mit der Schreibmaschine spielen. Es war eine große Maschine mit Dezimaltabulator und einer breiten, schweren Walze. Man musste Kraft aufwenden, um die Umschalttaste für die Großbuchstaben zu bedienen, und wenn man sie nicht ganz herunterdrückte, rutschten die Lettern nach oben. Ich erkannte das Schriftbild wieder, als ich viele Jahre später eine Kopie des Briefes in der Hand hielt, den mein Vater im Sommer 1973 an Józef geschrieben hatte, die über die Zeilen tanzenden Buchstaben, die ausgefransten Punzen beim »m« und beim »e«, die altmodischen, zart geschwungenen Serifen.
    Mein Vater hatte sich Zeit gelassen. Józefs Brief an Arnold war auf seinem Schreibtisch unter Arbeitsblättern, Notizzetteln und Stapeln mit Klassenarbeiten verschwunden. Er hatte gerade erst zu unterrichten begonnen. Drei Monate waren vergangen, seit er seine Großeltern in Fürstenau besucht hatte, und erst als die Sommerferien begannen, die großen Ferien, auf die er als Kind immer so sehnsüchtig gewartet hatte, formulierte mein Vater eine Antwort. »Lieber Józef Koźlik«, schrieb er, »ich habe mich gefreut, von Ihnen nach so langer Zeit ein Lebenszeichen erhalten zu haben. In dem Brief an meine Großeltern in Fürstenau (im letzten Jahr) haben Sie den Wunsch geäußert, über mich und meine Familie Näheres zu erfahren.«
    |97| Der Brief, den mein Vater aufsetzte, war in einem beinahe geschäftsmäßigen Tonfall gehalten, höflich und distanziert. Er schrieb ein paar Sätze über sich selbst, über meine Mutter und über mich, über seine Arbeit als Lehrer und über die Veränderungen in Fürstenau und schloss mit den unverbindlichen Sätzen: »Ich hoffe, mit diesen Zeilen Ihren ersten Informationsbedarf gestillt zu haben, und ich

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