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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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der leeren Klassenzimmer auf, unter einer großen Bildtafel mit farbigen Abbildungen zu den Produktionsabläufen in der Milchwirtschaft.
    |106| Am Morgen nach seiner Ankunft sieht er sich in Fürstenau um. Er läuft an gedrungenen Fachwerkhäusern vorbei, an einem alten Stadttor mit einem spitzen Türmchen, an Geschäften mit Backsteinfassaden und leeren Auslagen hinter gesprungenen Scheiben. Soldaten bevölkern die Stadt. Die polnischen Fallschirmjäger sind nicht zu übersehen, mit ihren schief aufgezogenen Baretten und den kurzen, eng gebundenen Krawatten, die sie zu schmal geschnittenen Fliegerblusen tragen. An den Straßenecken stehen britische Militärpolizisten mit einem Schlagstock am Gürtel, die den Abzug ihrer Landsleute verfolgen. Zwischen den Soldaten holpern Handwagen und Fuhrwerke über das Kopfsteinpflaster, schwer beladen mit Koffern, Kisten und Kleidersäcken. Sie gehören den Fürstenauer Familien, die ihre Wohnungen räumen müssen, um sie den Polen zu überlassen.
    Józef bahnt sich seinen Weg durch die Menge und läuft die Straße in der Mitte des Ortes entlang, an der Ruine des Rathauses vorbei. Dann kommt er zur Schlossanlage. Enten und Schwäne schwimmen auf dem Teich. Es ist ein Anblick wie auf einer Postkarte, bloß dass neben den alten Mauern lange Holzbaracken errichtet worden sind für die Flüchtlinge aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, von denen jeden Tag mehr in der Stadt eintreffen.
    Józef macht am Schlossteich kurz halt und reißt im Schatten einer der großen Buchen ein Päckchen Zigaretten auf. Langsam geht er am Wasser entlang und raucht, wie ein Urlauber, der sich die Zeit bis zum Mittagessen mit einem Spaziergang vertreibt. Am Friedhof biegt er ab und schlendert weiter Richtung Bahnhof, wo gerade der letzte Zug mit britischen Soldaten abgefertigt wird. Er überquert die Gleise und biegt in eine Schotterstraße ein, die entlang der Bahnlinie |107| verläuft. Fliederduft schlägt ihm entgegen. Hinter einem schmalen Graben und einer dichten Hecke liegt ein Garten. Er gehört zu einer Bürgervilla mit einer ungewöhnlichen Fassade. Breite Treppenstufen führen zu einer antik gerahmten Tür, zwei große, symmetrisch angeordnete Dachaufbauten zeigen mit ihren Giebeln zur Straße hin, rechts ragt ein Balkon mit einem kunstvoll geschmiedeten Gitter hervor. Vor dem Haus führt eine geschwungene Holzbrücke zwischen Fliedersträuchern über einen Graben zur Straße. Am Geländer lehnt eine junge Frau, groß, mit dunkelblonden Locken.
    Sie lächelt Józef an. »Coffee?«, fragt sie ihn. Sie macht eine Bewegung, als ob sie rauchen würde: »Cigarettes?« Józef bleibt stehen und holt die angebrochene Schachtel aus der Tasche seines Hemdes hervor. »Bitte schön«, sagt er auf Deutsch. Die junge Frau lacht, als sie seinen Akzent hört. In diesem Moment klopft im Haus jemand an die Fensterscheibe. »Ich heiße Marianne«, sagt sie, bevor sie die Zigaretten in der Tasche ihres Kleides verschwinden lässt. »Józef«, sagt Józef. An der Tür dreht Marianne sich noch einmal um und zwinkert ihm zu.
    Er kommt wieder, am nächsten Tag und auch am übernächsten. Immer wenn er es einrichten kann, geht er die Schotterstraße an den Bahngleisen entlang. Manchmal hat er Glück, und Marianne kommt aus dem Haus und läuft vor zum Gartentor. Er bringt ihr kleine Geschenke mit, Schokolade, eine Orange und einmal sogar ein Stück parfümierte Seife, das in knisterndes Seidenpapier eingeschlagen ist. Es stammt aus einem Hilfsgütertransport, den Józef und drei andere Soldaten auf der kurvigen Landstraße in Richtung Bramsche gestoppt haben, um ein paar Kartons von |108| der Ladefläche des Lkws auf den Rücksitz ihres Jeeps zu verladen.
    »Bitte sehr«, sagt Józef, wenn er seine Geschenke überreicht, und Marianne neckt ihn damit, dass er das »i« in »Bitte« so merkwürdig in die Länge zieht. Sie wechseln jedes Mal nur ein paar Worte, leicht und flüchtig, an die sich später keiner von beiden erinnern kann, und es dauert nie lange, bis sie das Klopfen an der Fensterscheibe hören, das Marianne zurück ins Haus ruft. »Meine Mutter«, sagt sie und verdreht die Augen. Sie bittet Józef, nicht mehr zum Haus zu kommen, sondern am Bahnübergang auf sie zu warten.
    So beginnt es. Manchmal haben sie nur ein paar Minuten, manchmal eine Stunde oder sogar einen halben Nachmittag, an dem Marianne sich von zu Hause fortstehlen kann. Sie laufen draußen vor der Stadt über schmale Wege, und während die

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