Die Legenden der Vaeter
KZ Esterwegen. Im Herbst 1939 kamen die ersten der zahllosen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter aus Polen.
Esterwegen kannte ich. Jedes Jahr im Winter, meist lag Schnee auf den Feldern, fuhren meine Eltern mit dem Auto hinaus zu der kleinen Ortschaft. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers war eine Gedenkstätte entstanden, mit einem Stein und einer Tafel, und jedes Jahr wurde hier mit einer Mahnwache an die Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 erinnert. Ehemalige Gefangene des Lagers erzählten, wie sie von SA-Männern ins Moor getrieben worden waren, um Torf zu stechen. Spaten und Schubkarre waren die einzigen Werkzeuge, die man den Häftlingen zugestand. Die Wächter prügelten die Gefangenen mit Stöcken und Gewehrkolben, bis sie bluteten, und wer gegen die Lagerordnung verstieß, wurde gezwungen, mit einem steinschweren, nassen Torfsoden auf dem Kopf stundenlang reglos im kalten Wind zu stehen.
Mein Vater und meine Mutter sahen zu Boden, während sie den Berichten lauschten, ihre Gesichter unter dem Kragen ihrer Wintermäntel verborgen. Politiker und Gewerkschaftsvertreter warnten vor einer Wiederkehr der düsteren Zeiten und rühmten den Mut, den einige Bewohner der Region gezeigt hatten, als sie entflohenen Häftlingen Unterschlupf |104| gewährten. Es war ein Erinnerungsritual, an dem meine Eltern pflichtbewusst teilnahmen. Sie zündeten Kerzen an, die in durchbohrten Pappscheiben steckten, um die Hände vor dem herunterlaufenden Wachs zu schützen. Zuletzt stimmte ein Chor das schwermütige Lied von den Moorsoldaten an, von dem es hieß, die Insassen des Konzentrationslagers hätten es bei der Arbeit gesungen.
Darüber, was nach dem Krieg passierte, wurde bei den Mahnwachen in Esterwegen nicht gesprochen. Die Rolle, die die polnischen Soldaten damals spielten, ist in Deutschland bis heute so gut wie unbekannt. Und es gibt kaum jemanden, der sich im Emsland und in den benachbarten Gebieten gerne an die Zeit erinnert, als ausgerechnet die Polen plötzlich das Sagen hatten.
Unter den Gefangenen in Esterwegen und in den anderen Lagern sind Niederländer, Belgier und Franzosen, Ukrainer, Litauer und Russen. Die größte Gruppe stellen jedoch die Polen. Im Frühjahr 1945 machen sich ihre Landsleute aus dem ganzen Nordwesten Deutschlands auf den Weg in Richtung Emsland, auf der Suche nach Verwandten und Freunden. In den Baracken der Lager werden Notunterkünfte hergerichtet, ganze Ortschaften werden geräumt, um Platz für die Flüchtlinge zu schaffen. Gleichzeitig werden polnische Soldaten in der Region zusammengezogen. Eine Panzerdivision, die gegen Ende des Krieges gemeinsam mit den englischen und kanadischen Truppen nach Deutschland vorgerückt ist, wird ins Emsland verlegt.
Es bleibt nicht bei einem Rückzugsgebiet für polnische
DPs
. Innerhalb weniger Wochen wird eine Besatzungszone innerhalb der Besatzungszone geschaffen, eine polnische |105| Enklave, die weit über das eigentliche Gebiet des Emslands hinausreicht. Schnell stellt sich heraus, dass die Panzerdivision die anfallenden Aufgaben nicht allein bewältigen kann. Sie fordert Verstärkung an, und die 1. Unabhängige Fallschirmjägerbrigade wird aus Emmerich abkommandiert. Sie soll den Kreis Bersenbrück übernehmen, der östlich an das Emsland grenzt. Das 2. Bataillon, zu dem Józef Koźlik gehört, wird in Fürstenau stationiert.
Mehr als tausend polnische Soldaten werden in den letzten Maitagen in die Stadt verlegt, eine ganze Armee im Vergleich zu den paar englischen Soldaten, die hier seit den letzten Tagen des Krieges die Stellung halten. Der neue Stadtkommandant empfängt eine Abordnung der Bürgerschaft. Die Fürstenauer erfahren, dass die englischen Besatzungstruppen, die seit April in der Stadt sind, auf Befehl der britischen Militärverwaltung durch eine polnische Einheit abgelöst werden, die Sicherheit und Ordnung in der Stadt garantieren soll.
Polizei und Stadtverwaltung sind an die Weisungen der Stabsoffiziere gebunden. Häuser werden requiriert. Der polnische Stadtkommandant lässt mehrere Straßenzüge vollständig räumen, und der Bataillonsstab richtet sich in der Villa eines Arztes in der Bahnhofsstraße ein. Daneben liegt eine Landwirtschaftsschule, die zusammen mit der neuen Mittelschule, dem Kindergarten und dem Haus der NSDAP zu den Vorzeigebauten aus den dreißiger Jahren gehört. Hier werden Unterkünfte für die Mannschaftsgrade eingerichtet. Józef schlägt sein Feldbett in einem
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