Die Legenden der Vaeter
in den Kneipen und Bars, die in den Kellern von halbeingestürzten Häusern untergebracht sind, herrscht ausgelassenes Treiben. Hochdekorierte britische Soldaten trinken bis in die frühen Morgenstunden mit Schwarzmarkthändlern, die ihr gesamtes Kapital in Form von goldenen Ketten und Diamantringen am Körper tragen, prall |131| gefüllte Umschläge mit Bestechungsgeldern werden weitergereicht, und im Gegenzug wechseln im Halbdunkel Lebensmittelkarten, Passierscheine und Konzessionen ihre Besitzer. Józef bleibt eine ganze Woche in der Stadt. Er trinkt, macht neue Bekanntschaften, hört zu, wenn andere reden. Als er zurück nach Fürstenau kommt, ein paar Tage vor dem ersten Advent, ist er übernächtigt und riecht nach Alkohol. Aber er hat eine Geschäftsidee mitgebracht.
In Deutschland existieren im Jahr 1947 kaum noch Kinos. Viele Säle sind Bombenangriffen zum Opfer gefallen, und die Militärregierungen üben in den Besatzungszonen eine strenge Kontrolle über die Branche aus. Offiziere überwachen den Verleih, jede einzelne Vorführung, auch wenn sie nur im Hinterzimmer einer Gaststätte stattfindet, muss genehmigt werden.
Józef hat Kontakte geknüpft. Ein Buchhalter aus Leeds, der mit der Armee nach Deutschland gekommen ist, hat ihm in Aussicht gestellt, bei entsprechender Gegenleistung die Bearbeitung eines Lizenzantrags zu beschleunigen. Außerdem hat er die Bekanntschaft eines Elektrikers namens Heinrich Schulenberg gemacht, der in Bückeburg lebt, einer Stadt am Rand des Wesergebirges. Er ist ein paar Jahre älter als Józef, und er besitzt einen Filmvorführschein, der noch aus den dreißiger Jahren stammt. Damals schon hatte er ein Kino eröffnen wollen, doch dann begann der Krieg. Jetzt fehlt ihm das nötige Startkapital. Und damit kommt Józef ins Spiel. Anfang Januar fährt er mit dem Zug nach Bückeburg, um zusammen mit Heinrich Schulenberg eine Firma zu gründen.
Bückeburg war lange Zeit die Residenzstadt der Fürsten von Schaumburg-Lippe. Es gibt ein Schloss, größer und |132| schöner als die Anlage in Fürstenau, und einen alten Stadtkern mit herrschaftlichen Häusern, die wie durch ein Wunder von den Luftangriffen verschont geblieben sind. Heinrich Schulenberg wohnt nur ein paar Schritte vom Bahnhof entfernt in der Scharnhorststraße. Als Józef in Bückeburg ankommt, ist es bitterkalt, aber sie gehen trotzdem sofort in die Stadt, zum Residenz-Theater.
Freitagnachmittag, kurz nach halb drei, hat sich vor dem Eingang des Kinos eine kleine Menschenmenge versammelt, Männer, Frauen, Paare. Heinrich und Józef bleiben auf der anderen Straßenseite stehen und sehen zu, wie immer neue Menschen dazukommen und versuchen, sich durch die Wartenden nach vorn zur Kasse durchzudrängeln. Plötzlich kommt es zu einem Tumult. Zwei Männer in zerschlissenen Wintermänteln, die noch aus den Beständen der Wehrmacht stammen, fangen an, sich zu prügeln. Ein schriller Pfiff aus einer Trillerpfeife, Polizisten bahnen sich ihren Weg durch die Menge, und kurz darauf rattert die Holzjalousie an der Kasse herunter. Unter den Wartenden macht sich Enttäuschung breit, ärgerliche Rufe werden laut. Erst als die Polizisten demonstrativ ihre Gummiknüppel vom Gürtel lösen, beginnt die Menge sich langsam aufzulösen. »Es ist immer ausverkauft«, sagt Heinrich Schulenberg zu Józef. »Jeden Nachmittag.«
Schuld daran ist die Royal Air Force. Die britische Luftwaffe betreibt bei Bückeburg einen Flugplatz, darum gibt es in der Stadt im Jahr 1948 Massen von fest stationierten englischen Soldaten. Sie sind in den alten Kasernen untergebracht, die noch aus preußischer Zeit stammen. Das Residenz-Theater ist das einzige Kino der Stadt, und auf Anordnung der Besatzungsarmee sind die Abendvorstellungen |133| den englischen Soldaten vorbehalten. Die deutsche Bevölkerung muss sich auf die Nachmittagsvorstellung beschränken, und auch die findet nur an vier Tagen in der Woche statt. Das Kino ist hoffnungslos überlaufen, und die Polizei muss regelmäßig Schlägereien am Einlass verhindern. Nichts deutet darauf hin, dass die Besatzungsarmee das Residenz-Theater freigeben wird, und der Magistrat bemüht sich bereits seit längerem um ein zweites Kino in Bückeburg. Die Stadt muss sich die Einrichtung einer neuen Spielstätte von der Militärregierung genehmigen lassen, der Bürgermeister und der Stadtdirektor verhandeln mit einem Standortoffizier.
Józef lässt sich schnell davon überzeugen, dass Heinrich Schulenberg und
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