Die Legenden der Vaeter
erzählt, wie mein Vater sie begonnen und |136| Józef sie in seinen Briefen weitergeführt hatte. Ein junger Pole gerät in das Räderwerk des Zweiten Weltkriegs, er gelangt auf verschlungenen Wegen in eine deutsche Kleinstadt und verliebt sich dort in eine junge Frau. Er will alles richtig machen, doch er ist machtlos gegenüber dem wirtschaftlichen Chaos in der Nachkriegszeit und dem tief verwurzelten Hass der Deutschen auf die Polen. Zuletzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als zurück in seine Heimat zu gehen und seine Verlobte und seinen Sohn auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs zurückzulassen. »Darum bin ich nach Polen gefahren«, schrieb Józef dreißig Jahre später an meinen Vater: »Du siehst also, es war nicht meine Schuld, dass ich Deine Mutter nicht geheiratet habe. Es waren die verworrenen Zeiten.«
|137| I ch hatte fast zehn Jahre damit verbracht, Józefs Leben zu rekonstruieren, mit vielen Unterbrechungen, weil mir immer wieder das Geld ausgegangen war. Ich hatte Wochen und Monate in Bibliotheken und Archiven verbracht, ich war auf Reisen gegangen, um mir einen Eindruck von den Orten zu verschaffen, an denen Józef gewesen war, und ich hatte mich immer wieder für längere Zeit zum Schreiben zurückgezogen und vergeblich versucht, die Fragmente seiner Biographie zu einer zusammenhängenden Geschichte zusammenzusetzen.
Es war der Wunsch, vom Zuhörer zum Erzähler zu werden. Geradezu zwanghaft hatte ich versucht, der flüchtigen Gestalt, die den Kindheitsphantasien meines Vaters entsprungen war, Konturen zu geben und mir Józef als Protagonisten anzueignen. In meinen Entwürfen hatte ich Bögen gespannt, von dem geschäftstüchtigen Jungen, der in Siemianowitz auf den Halden Brechkoks und rostiges Eisen sammelt, bis zu dem Besatzungssoldaten, der nach dem Krieg ein kleines Vermögen auf dem Schwarzmarkt macht, von dem verträumten Schüler, der im September 1939 mit weit zurückgelegtem Kopf den Bombern der Luftwaffe hinterhersieht und vier Jahre später als Fallschirmjäger zu einer Eliteeinheit der polnischen Exilarmee kommt. Doch am Ende war mein polnischer Großvater mir nicht näher |138| gerückt als meinem Vater in jenen Briefen, die dieser über zehn Jahre hinweg von ihm erhalten hatte. Józef Koźlik war nicht mehr als der Name auf der Rückseite eines vergilbten Umschlags, der eines Tages in Fürstenau vor meinem Vater auf dem Küchentisch gelegen hatte. Er existierte nur auf dem Papier.
Zuletzt stand ich vor einem Berg von Problemen. Die Recherchen hatten mich in finanzielle Schwierigkeiten gebracht, weil ich meinen eigentlichen Beruf als freier Journalist vernachlässigt hatte. Ich hatte eine Menge Aufträge abgelehnt, nur um ein bisschen Zeit für weitere Nachforschungen herauszuschinden. Schließlich, ich war gerade wieder einmal auf dem Weg nach Polen, hatte ich sogar eine Festanstellung in einer Redaktion ausgeschlagen. Es war ein Angebot, das ich auf jeden Fall hätte annehmen müssen, doch damals dachte ich schon längst nicht mehr an meine Zukunft. Die Suche nach der Wahrheit über Józef war zu einer Belastung geworden, nicht nur beruflich, sondern auch privat.
Ohne es zu merken, war ich in eine Krise geraten. An einem kalten, verregneten Aprilwochenende in Warschau war ich am Tiefpunkt angekommen. Ich hatte Berlin wieder einmal für Wochen den Rücken gekehrt, diesmal für einen Polnischkurs. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen. Die unaussprechlichen Wörter wollten mir nicht im Gedächtnis bleiben, und ich verzweifelte an den grammatischen Eigenarten der polnischen Sprache mit ihren komplizierten Zeitformen und ihren zahllosen Ausnahmeregeln. Meine Freundin war acht Stunden lang Bahn gefahren, um mich in Warschau zu besuchen, und wir stritten drei Tage lang darüber, wie es mit uns weitergehen sollte. Als ich nach ihrer |139| Abreise durch die nassen Straßen vom Bahnhof zurück zur U-Bahn-Station ging, an den Auslagen von Modegeschäften, Parfümerien und Drogerien vorbei, die hier nicht anders aussahen als in Berlin, verspürte ich zum ersten Mal selbst die Gefühle, die mir aus den Erzählungen meines Vaters so vertraut waren, die Ohnmacht gegenüber einem Schweigen, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden war, und die Bitterkeit, die daraus erwachsen konnte. In einer Zeit, in der ich selbst hätte eine Familie gründen können, war ich einem Gespenst aus der Nachkriegszeit nachgejagt.
Ich hatte den Vater gesucht, den mein Vater selbst
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