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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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Hoffnung ist Großbritannien. Die britische Regierung hat ein Einbürgerungsprogramm für diejenigen polnischen Soldaten aufgelegt, die nach ihrer Entlassung aus der Armee nicht in ihr Heimatland zurückkehren wollen.
    Das ist ihre Chance. Józef wird nach England gehen, allerdings nicht, um in Manchester oder Leeds als Bergarbeiter zu schuften. Er wird Marianne nachholen, und sie werden sich auf einem Überseedampfer einschiffen, um am anderen Ende der Welt mit Józefs Ersparnissen neu anzufangen, weit weg von Europa, diesem verwüsteten Kontinent, wo alle nur darauf warten, dass ein neuer Krieg ausbricht. Józef hat in Brüssel gehört, dass Chile und Brasilien Einwanderer aufnehmen wollen, und in der Tasche seiner Fliegerbluse steckt ein Ausschnitt aus einer Soldatenzeitung, |126| mit einem Foto von der
Highland Monarch
, einem Truppentransporter der britischen Marine, der im April mit einhundertzweiundneunzig Polen an Bord von Liverpool aus in Richtung Argentinien und Uruguay in See gestochen ist.
    Sie laufen zurück in die Stadt. Als sie am Schloss angekommen sind, fotografieren sie sich gegenseitig, Józef mit dem Kinderwagen, Marianne, wie sie auf einer Bank sitzt, mit ihrem Sohn auf dem Arm. Die ersten Bäume haben bereits ihr Laub verloren, die Sonne steht tief und wirft lange Schatten. Alle lächeln, sogar das Kind.
    Am Abend gehen Józef und Marianne ins Hotel Landmann. Hier finden im Herbst 1947 die ersten öffentlichen Tanzveranstaltungen statt. Die Sperrstunde ist aufgehoben worden, die Besatzungszeit ist zu Ende. Ein Großteil der polnischen Soldaten hat Fürstenau bereits im Sommer verlassen. Die beschlagnahmten Wohnungen sind geräumt worden, und auch das Mannschaftsquartier in der Landwirtschaftsschule wurde aufgelöst. Józef wohnt bei Marianne und teilt sich das Schlafzimmer mit ihr und dem Kind. Er ist jetzt der Schwiegersohn, auch wenn Marianne und er noch immer nicht verheiratet sind. Er hilft in der Tischlerei aus, die polnischen Schulklassen in Quakenbrück gibt es seit dem Abzug der Truppen nicht mehr. Er sägt Holz zu, erledigt einfache Schleifarbeiten, und wenn Mariannes Vater nicht in der Werkstatt ist, organisiert er kleine Tauschgeschäfte mit den Gesellen.
    Zum ersten Mal seit drei Jahren trägt Józef wieder Zivil. Die Krawatte, die er jedes Mal anlegt, wenn er gemeinsam mit Marianne das Haus verlässt, bindet er nicht mehr mit dem schmalen Knoten der Fallschirmjäger, sondern flach |127| und breit, wie es jetzt Mode ist, und am Revers seiner Jacke blinkt die goldene Kette der Taschenuhr, die er von einer seiner Reisen nach Brüssel mitgebracht hat. Es ist ihm egal, dass hinter ihrem Rücken geredet wird. Alles scheint möglich. Marianne und er träumen von dem Leben, das sie führen werden, wenn er endlich die Papiere für die Auswanderung zusammen hat. Józef muss zuerst eine Aufenthaltserlaubnis beantragen, dann eine Arbeitserlaubnis, und die britischen Behörden lassen sich Zeit mit der Bearbeitung.
    Er ist nicht der einzige Pole, der in Fürstenau geblieben ist. Ein halbes Dutzend Soldaten, die genau wie er eine Frau kennengelernt haben, sind noch in der Stadt. Sie meiden die Öffentlichkeit. Im Hotel Landmann hat Józef an diesem Abend keinen von ihnen entdeckt, und auch ihm selbst wäre es lieber gewesen, er wäre mit Marianne zu Hause geblieben. Er weiß, dass er und die anderen polnischen Soldaten sich keine Freunde gemacht haben.
    Die Verletzungen sitzen tief. Die nationalsozialistische Propaganda hatte die Polen zur »minderwertigen Rasse« erklärt, und während des Krieges hatten polnische Zwangsarbeiter überall im Emsland und in den angrenzenden Gebieten auf Bauernhöfen und in mittelständischen Betrieben gearbeitet. Dann kamen ihre Landsleute, die von den Engländern kurzerhand zu Besatzungssoldaten gemacht worden waren, und kosteten die Niederlage Deutschlands voll aus. Sie zwangen die Deutschen, die Straßenseite zu wechseln, wenn sie ihnen auf dem Bürgersteig entgegenkamen, genau wie die Soldaten der Wehrmacht es in Polen während des Krieges gemacht hatten, sie ließen angesehene Bürger zum Straßenkehren abstellen, führten ohne jeden Anlass Razzien durch, bei denen sie Silberbestecke und Kristallgläser |128| beschlagnahmten, und als sie endlich abzogen, ließen sie die Wohnungen und Häuser, die sie requiriert hatten, verwüstet zurück.
    In einigen Dörfern und Städten werden nach dem Abzug der Truppen die Namen der Mädchen und Frauen, die ein Verhältnis

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