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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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nicht gehabt hatte, und ich war daran gescheitert. Und auch von den Geschichten, die er mir früher erzählt hatte und in denen ich Józef zum ersten Mal begegnet war, war nichts mehr übrig. Noch während ich ein Kind war, hatten sie Kratzer und Schrammen bekommen, Risse und Sprünge, die sich immer mehr ausweiteten, und als ich erwachsen war und begann, mehr über Józef herauszufinden, waren sie so spröde und porös, dass sie bei der kleinsten Berührung zersprangen und in tausend Scherben zerfielen. Ich stand mit leeren Händen da.

 
    |140| M eine Großmutter Marianne trug auffälligen Schmuck, schwere Ringe und breite Armreifen, sie färbte ihre Haare und brachte im Winter eine tiefe Bräune aus dem Skiurlaub in den Schweizer Alpen mit, die sie das ganze Jahr über pflegte. Wenn wir sie sonntags besuchten, begrüßte sie uns vor ihrem Haus mit einem strahlenden Lächeln, in einer makellos weißen, frisch gestärkten Bluse und mit einer Perlenkette um den Hals. Alt kam sie mir nie vor, nicht einmal in den letzten Jahren vor ihrem Tod. Sie war eine Frau, die den Luxus, in dem sie lebte, gern zur Schau trug und die Kreuzfahrten, die sie mit ihrem Mann unternahm, genauso genoss wie die Jagdgesellschaften, zu denen sie eingeladen wurden. Über ihre Lebensgeschichte weiß ich jedoch bis heute kaum etwas. Sie selbst hat nie viel über sich erzählt, und die Kindheit und Jugend meiner Großmutter bestehen für mich nur aus ein paar Daten und einigen Anekdoten.
    Marianne wird am 29. April 1928 in Fürstenau geboren, ein »Sonntagsmädel«, wie es in der Geburtsanzeige heißt. Ihr Vater Arnold ist ein angesehener Bürger der Stadt. Er ist Mitglied im Aufsichtsrat der Volksbank, und in den zwanziger Jahren gehört er genau wie der Zahnarzt, der Amtsrichter und der Apotheker zum Stahlhelm-Bund, einer national ausgerichteten Vereinigung ehemaliger Frontsoldaten, die nach dem Ersten Weltkrieg gegründet worden ist. |141| Seine Tochter schickt er in die Kindergruppe des Königin-Luise-Bundes, der Frauenvereinigung an der Seite des Stahlhelms. Sie hört Geschichten über die junge Königin, deren Herz über der Niederlage gegen die Franzosen zerbrach, und es gibt ein Foto, auf dem meine Großmutter im Alter von fünf Jahren als »Kornblümchen« zu sehen ist, im preußischblauen Leinenkleid und mit geflochtenen Zöpfen.
    Im Frühjahr 1935 wird Marianne eingeschult. Der Stahlhelm und der Luisenbund sind gleichgeschaltet worden. Ihr Vater Arnold tritt in die NSDAP ein, Marianne besucht die Treffen des BDM, des Bundes Deutscher Mädel. 1938 wird ihre Schwester Eleonore geboren. Kurz vor Beginn des Krieges wechselt Marianne von der Volksschule auf die Höhere Mädchenschule in Rheine. Sie lernt Englisch und Französisch, und im Schuljahr 1940/1941 legt sie im Geschichtsunterricht eine Kladde an, in der sie anhand von Tagebucheinträgen und eingeklebten Zeitungsausschnitten die Feldzüge der Wehrmacht verfolgt.
    Marianne ist in der neunten Klasse, als die Luftangriffe auf Rheine beginnen. Die Schule wird evakuiert. Die Mädchen verbringen das Frühjahr und einen Teil des Sommers 1944 in einem BDM-Lager in Rottach-Egern am Tegernsee, bis die Bombardements der Briten und Amerikaner auch auf den Süden Deutschlands ausgeweitet werden. Marianne kehrt zurück nach Fürstenau. Die Bahnfahrt quer durch das vom Krieg überzogene Deutschland gehört zu den wenigen Ereignissen aus ihrer Kindheit und Jugend, über die sie selbst häufig sprach, wohl wegen des Zusammentreffens mit einem historischen Ereignis. Marianne steigt am 18. Juli in Rottach-Egern in den Zug, und da überall in Deutschland Bahnhöfe bombardiert werden, dauert es drei Tage, bis |142| sie zu Hause ankommt. Es ist der 20. Juli 1944. In der ganzen Stadt wird über das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler geredet.
    Die Schule in Rheine bleibt weiterhin geschlossen. Marianne muss ihrer Mutter Anna zur Hand gehen. Auch darüber sollte sie später gelegentlich sprechen, über die Schufterei im Haushalt und im Garten, und einmal erzählte sie vom Kriegsende, als englische und kanadische Truppen die Stadt angriffen. Anna hatte sich mit ihr und Eleonore und den anderen aus dem Haus zu Verwandten in Lonnerbecke geflüchtet, auf den Bauernhof, zu dem mein Vater später manchmal mit dem Rad fahren sollte, um Eier, Butter oder Milch zu holen. Als sie zurückkamen, versperrten umgestürzte Telegrafenmasten den Weg, am Straßenrand lagen tote Soldaten, Kühe, Schweine und Ziegen. Das

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