Die Legenden der Vaeter
mit einem Besatzungssoldaten hatten, öffentlich gemacht, mit Listen, die über Nacht an die Türen von Kirchen und Rathäusern genagelt werden, und auf den Dörfern auf dem Land scheren junge Männer ihren eigenen Schwestern die Köpfe, weil sie sich mit einem Polen eingelassen oder, noch schlimmer, weil sie ein Kind von ihm bekommen hatten.
Auch in Fürstenau droht die Stimmung umzuschlagen. In den letzten Monaten sind viele der Männer aus der Gefangenschaft zurückgekehrt und haben sich die Geschichten aus der Besatzungszeit erzählen lassen. Józef spürt die feindseligen Blicke an diesem Abend im Hotel Landmann von Anfang an. Laut geflüsterte Bemerkungen werden gemacht, es gibt Rempler auf der Tanzfläche. Marianne lässt sich an der Garderobe ihren Mantel geben, und sie machen sich auf den Weg nach Hause. Kaum haben sie das alte Stadttor passiert, bemerken sie die kleine Gruppe junger Männer, die ihnen folgt. Józef hakt Marianne unter, sie beschleunigen ihre Schritte, doch die Männer bleiben hinter ihnen. Sie hören Schimpfworte, »Polenliebchen« und »Polenhure«, und als sie am Bahnübergang ankommen und in die Schotterstraße einbiegen, wirft einer ihrer Verfolger eine Handvoll Steine nach ihnen.
Sie beginnen zu rennen, Marianne in hochhackigen Schuhen. Józef bleibt an der Holzbrücke stehen, während sie zum Hauseingang läuft. Kaum hat sie die Treppe an der Tür |129| erreicht, bekommt er den ersten Schlag ab. Es sind vier Männer, im Dunkeln kann er sie kaum erkennen. Er teilt selbst ein paar Fausthiebe aus, aber zuletzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Hände schützend vor das Gesicht zu nehmen. Als er zu Boden geht, treten sie zu.
Seine Jacke ist zerrissen, als er ins Haus kommt, das Hemd blutüberströmt. Marianne wäscht ihm das Gesicht, tupft Jod auf die Wunden und gibt Józef ein nasses Handtuch, das er sich an die rechte Augenbraue presst. Marianne drängt ihren Vater, die Polizei zu rufen, doch ihre Mutter ist dagegen. »Es ist bereits genug Schaden angerichtet worden«, sagt sie.
Im Schlafzimmer weint das Kind. Józef zündet sich eine Zigarette an und verzieht das Gesicht vor Schmerz, als er den ersten, tiefen Zug nimmt. Vorsichtig tastet er seine Rippen ab.
Mariannes Eltern hatten Józef Koźlik in ihrem Haus nur geduldet, weil er ein Angehöriger der Besatzungsarmee war. Die polnischen Fallschirmjäger waren die Herren der Stadt, und niemand in Fürstenau hätte es gewagt, sich ihnen in den Weg zu stellen. Das ist jetzt vorbei. Nachdem Józef seine Uniform abgelegt hat, ist er einfach nur einer der zahllosen Menschen, die der Krieg wie Treibholz an die Strände Europas gespült hat. Auch Mariannes Eltern machen keinen Hehl mehr aus ihrer Abneigung. Józef kommt als Schwiegersohn nicht in Frage, und das nicht nur, weil er abends beim Doppelkopf immer noch die falschen Karten ausspielt. Ihm fehlt das Geschick für die Arbeit als Tischler, und Mariannes Vater schüttelt nur den Kopf, wenn er ihm in der Werkstatt bei der Arbeit über die Schulter sieht.
|130| Marianne und Józef brennen darauf, das alles hinter sich zu lassen. Doch die Auswanderungspläne, an denen sie sich festgehalten haben, sind vom Tisch. Marianne ist neunzehn, noch lange nicht volljährig, und sie weiß, dass ihre Eltern sie nicht gehen lassen werden, nicht nach England und schon gar nicht nach Übersee. Sie einigen sich darauf, dass Józef versuchen soll, sich eine eigene Existenz in Deutschland aufzubauen, nicht in Fürstenau, wo die Leute in ihnen immer das Liebespaar aus der Besatzungszeit sehen werden, sondern an einem Ort, an dem sie niemand kennt.
Józef hat Geld zurückgelegt, seinen Sold, den er in britischen Pfund erhalten hat, außerdem die Erlöse aus seinen Schwarzmarktgeschäften. Im November 1947 fährt er nach Osterode im Harz, um einen britischen Unteroffizier zu treffen, den er zwei Jahre zuvor kennengelernt hat, als er hierher an die Grenze zur sowjetischen Besatzungszone abkommandiert worden war. Józef erfährt, dass sein Bekannter seit längerer Zeit in Braunschweig stationiert ist, und als er ihn dort aufstöbert, öffnen sie als Erstes eine Flasche Whiskey, um auf die alten Zeiten anzustoßen. Es bleibt nicht bei ein paar Gläsern. Der Unteroffizier hat Grund zu feiern. Gerade hat er Bescheid bekommen, dass er in drei Monaten zurück nach Hause darf.
Braunschweig war im Krieg schwer zerstört worden. Die Stadt hat sich von den Bombenangriffen noch lange nicht erholt, aber
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