Die Legenden der Vaeter
Rathaus war in Brand geschossen worden und komplett ausgebrannt. Eine Granate war in den Turm der evangelischen Kirche eingeschlagen, eine Bäckerei, ein Schuhgeschäft und die Herrenmaßschneiderei in der Großen Straße hatten Treffer abbekommen, doch die Tischlerei und das Haus von Mariannes Eltern war durch einen glücklichen Zufall unversehrt geblieben. Die polnischen Soldaten, die kurz darauf die Stadt von den Engländern übernahmen, erwähnte meine Großmutter nie und auch nicht, was sonst in jenen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg passiert war.
Es gibt einige wenige Fotos von Marianne aus den späten Dreißigern. Sie zeigen ein lachendes junges Mädchen mit schweren, dunkelblonden Locken, die mit einem frechen Blick in die Kamera schaut. Es war leicht, in ihr die viel zu junge Mutter zu erkennen, die ich aus den Geschichten meines Vaters kannte. Man konnte sich gut vorstellen, dass sie, |143| Eleonore und mein Vater wie drei Kinder gemeinsam durch Arnolds und Annas Haus in Fürstenau tobten und sämtliche Schubladen aufrissen, um nach einer Schachtel Pralinen zu suchen. Das Bild meiner Großmutter, das schließlich hinter den brüchig gewordenen Erzählungen meines Vater hervortrat, war allerdings ein ganz anderes.
Im August 1956 wäre der Holzschuppen der Tischlerei beinahe in Flammen aufgegangen. Die Geschichte hatte ich oft gehört. Mein Vater war damals zehn Jahre alt. Es war einer jener langen, heißen Sommer, in denen er in den großen Ferien tagelang mit der Steinschleuder in der Hand durch den Pottebruch strich, den Bahndamm entlanglief und aus einem sicheren Versteck in einem Kornfeld die Gleisarbeiter und Streckenläufer beobachtete. Manchmal blieb mein Vater auch zu Hause, setzte sich zu Karl in die Beizstube oder schlich mit seiner Wasserpistole um die Werkstatt, um Fliegen zu jagen.
An einem dieser Nachmittage stieg plötzlich Rauch aus dem alten Schuppen auf, in dem sein Großvater das Holz lagerte. Während die Gesellen Wassereimer herbeitrugen, rief Arnold vom Telefonapparat im Haus die Feuerwehr. Der Schaden war zum Glück gering. Der Brand hatte sich an der hinteren Wand des Schuppens entzündet. Glasscherben, vermuteten die Feuerwehrleute, hatten die Sonnenstrahlen wie in einem Brennglas gebündelt und im trockenen Gras ein Feuer entfacht. Die Bretterwand war angesengt worden, aber die Flammen konnten gelöscht werden, bevor sie auf das wertvolle Holz im Schuppen übersprangen.
Mein Vater hatte mit dem Kopf geschüttelt, als erst Arnold, dann Anna und zuletzt Marianne ihn gefragt hatten, |144| ob er etwas mit dem Feuer zu tun habe. Die Erwachsenen gaben sich damit zufrieden, und die ganzen Ferien über kämpfte mein Vater mit seinem schlechten Gewissen.
In dieser Version hatte die Geschichte eine einfache Moral, wie in einem Kinderbuch. Denn schließlich tat mein Vater das Richtige. Er nahm allen Mut zusammen und ging auf das Polizeirevier der Stadt. Reumütig gestand er dem diensthabenden Beamten seine Tat. Er hatte hinter dem Schuppen mit Streichhölzern gespielt und Zeitungspapier und Holzreste angezündet, dann waren die Flammen außer Kontrolle geraten. In Wirklichkeit allerdings hatte nicht das schlechte Gewissen meinen Vater auf die Polizeiwache getrieben. Es war die Furcht vor seiner Mutter.
Ich kann mich nicht erinnern, wann mein Vater mir zum ersten Mal schilderte, wie der Alltag im Haus seiner Großeltern wirklich aussah. Als er begonnen hatte, mir von Fürstenau zu erzählen, war ich süchtig nach seinen Geschichten gewesen und nach dem Gefühl der Nähe, das sie mir vermittelten, so dass mir zunächst nicht auffiel, dass die Welt, in der wir beide damals zu Hause waren, allmählich immer dunklere Züge annahm. Als ich älter wurde, verloren seine Geschichten einen Teil ihrer Faszination für mich. Als Teenager las ich Romane, sah Filme und besuchte Theaterstücke; später arbeitete ich als Journalist und bekam Gelegenheit, einen Blick in das Leben anderer Menschen zu werfen.
Doch selbst als ich erwachsen wurde, erzählte mein Vater mir immer wieder, wenn wir uns trafen, von Fürstenau. Aus der Idylle war damals längst ein Albtraum geworden, und auch ihn teilte ich mit meinem Vater. Die Komplizenschaft |145| zwischen ihm und mir war vor langer Zeit besiegelt worden und hielt noch immer, selbst wenn ich versuchte, Distanz zu schaffen. Wenn ich meinen Vater zwischen meinen Fahrten nach Polen besuchte, brachte ich Mikrofon und Aufnahmegerät mit, wie ein Reporter,
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