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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kolja Mensing
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ihm abends Schokolade mit und einmal sogar einen leuchtend roten Ball. Das war der Auslöser für das Unglück.
    Niemand wusste, wie es genau passiert war. Eines Nachmittags war der Ball auf die Pferdekoppel gerollt, und mein Vater war offenbar unter dem Zaun hindurchgekrochen und über die von Maulwurfshügeln und zertrampelten Grasbüscheln übersäte Wiese gelaufen. Es geschah, als er gerade nach dem Ball greifen wollte. Ein Pferd trat aus, und der Huf traf ihn mitten ins Gesicht. Der Kiefer war gebrochen.
    Auch davon hatte mein Vater mir erzählt, von den einsamen Nächten im Krankenhaus, von den Schmerzen, von der Schnabeltasse, mit der eine strenge Krankenschwester ihm klare Brühe einflößte, und von dem Kieferorthopäden, bei dem er noch über Jahre hinweg in Behandlung sein sollte. Mein Vater musste eine unförmige hölzerne Zahnspange tragen, mit Lederriemen, die hinter seinem Kopf festgezurrt wurden. In seiner Erinnerung war daraus eine Foltermaschine geworden, und ich litt mit ihm, wenn er mir davon erzählte. Spucke sammelte sich in seinem Mund, ohne dass er schlucken konnte, oft hatte er das Gefühl, an dem klobigen Gestell ersticken zu müssen.
    Erst als ich mehr über Józef Koźlik und seine Zeit in Deutschland in Erfahrung gebracht hatte, verstand ich, was sich hinter dieser Geschichte verbarg. Marianne hatte mit meinem Vater keinen Urlaub bei den Verwandten auf dem Land gemacht. Es war eine Flucht gewesen, vor Józef, der nach der Trennung im Herbst 1948 immer wieder an sie geschrieben hatte und manchmal von Bückeburg aus nach Fürstenau gekommen war, um wie früher an der kleinen |152| Holzbrücke vor dem Haus oder am Bahnübergang auf sie zu warten, unrasiert und mit einer Schnapsflasche in der Tasche seines alten Wintermantels. Deshalb war Marianne im Januar 1949 mit ihrem Sohn zu ihrem Onkel und ihrer Tante an die niederländische Grenze gefahren. Als sich der Unfall auf Jan Aarninks Koppel ereignete, war sie bereits ein halbes Jahr von zu Hause fort.
    Im Gegensatz zu den anderen Ereignissen aus den Jahren unmittelbar nach dem Krieg ließ sich dieser Tag nicht so einfach aus dem Gedächtnis der Familie streichen. Mein Vater hatte an den Folgen seiner Verletzung lange zu leiden, und die Narbe, die er an seinem Kinn zurückbehalten hatte, war so auffällig, dass sie sogar als »unverwechselbares Kennzeichen« in seinen Personalausweis eingetragen wurde. In seiner Erinnerung war das halbe Jahr, das er nach der Trennung seiner Eltern auf dem Land verbracht hatte, auf einige Sommermonate zusammengeschrumpft, und wie all die anderen Geschichten, die er mir erzählte, war sie voller Details und Einzelheiten, so dass man die große Leerstelle, die es in seiner Kindheit gab, fast nicht bemerkte.
     
    Marianne wusste, dass es mit Józef für immer vorbei war. Als sie mit meinem Vater vorübergehend bei Jan Aarnink und seiner Frau Else lebte, lernte sie in der Nachbarschaft einen Mann kennen, einen älteren Landwirt, der nach dem Tod seines Vaters den elterlichen Hof übernommen hatte. Er lebte dort allein mit seiner Mutter und war seit längerem auf der Suche nach einer Frau. Für Marianne wäre es ein neuer Anfang gewesen, weit weg von Fürstenau, wo die jungen Männer ihr immer noch »Polenliebchen« hinterherriefen, wenn sie den Kinderwagen durch die Stadt schob. |153| Doch sie sah ihre Zukunft nicht auf einem Bauernhof, und die Verlobung, die damals hastig arrangiert worden war, wurde schnell wieder gelöst.
    Über Jahre hinweg studierte Marianne in Zeitungen und Illustrierten mit einem gespitzten Bleistift in der Hand die Spalten mit den Heiratsannoncen und schickte mit Kennnummern versehene Antworten an die Anzeigenabteilungen der Verlage. Briefwechsel entspannen sich, Porträtfotos wurden getauscht, und manch einer der Männer, mit denen sie in Kontakt getreten war, kam für einen Nachmittag nach Fürstenau. Sie hießen Fred, Viktor oder Hugo, trugen Anzüge und rochen nach Rasierwasser. Ein Versicherungskaufmann aus Hannover war dabei, ein kahlköpfiger Vertreter für Badezimmereinrichtungen und ein Berliner Architekt, der erst ein Jahr zuvor aus der russischen Gefangenschaft zurückgekehrt war und feststellen musste, dass seine Frau mittlerweile mit dem Nachbarn zusammenlebte. Sie brachten Blumen mit, und mein Vater musste ihnen artig die Hand geben, frisch gekämmt und in seinen besten Sachen.
    Irgendwann war Marianne es leid, dass Anna bei diesen Treffen im Herrenzimmer neben ihr in der

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