Die Legenden der Vaeter
der ein Interview mit einer fremden Person führt. Und so schilderte er mir schließlich auch die andere, grausame Seite seiner Kindheit in allen Einzelheiten.
Es hatte, wie ich im Nachhinein feststellte, in all den Geschichten über Fürstenau bereits verborgene Hinweise gegeben. Wenn mein Vater nach einem Streit beim Baden in der Waschküche in den Garten lief und sich im Gras versteckte, dann war das kein Spiel, ebenso wenig wie dann, wenn er vor Marianne auf das Dach des Holzschuppens flüchtete. Es waren, wie ich nun erfuhr, die verzweifelten Versuche eines verängstigten Kindes, sich den erbarmungslosen Schlägen seiner Mutter zu entziehen.
Marianne, das offenbarte mein Vater mir nach und nach, war nicht einfach nur eine viel zu junge Mutter, sie war eine unbeherrschte, gewalttätige Frau gewesen. Sie geriet beim kleinsten Anlass in Wut, schimpfte und tobte, bis sie zuschlug. Manchmal blieb es bei Ohrfeigen, aber oft steigerte sie sich so sehr in ihren Zorn hinein, dass sie mit geballten Fäusten auf ihn einprügelte, nach einem Holzscheit griff oder den eisernen Schürhaken zur Hand nahm. Marianne war in diesen Momenten wie von Sinnen, und Anna und Arnold sahen hilflos zu, wie ihre Tochter auf ihren Sohn einschlug.
Auch die Geschichte vom Feuer, das mein Vater als Kind gelegt hatte, hatte sich über die Jahre hinweg verändert, bis sie schließlich ihre endgültige Fassung bekommen hatte. |146| Mein Vater war damals tatsächlich zur Polizei gegangen, allerdings nicht, weil er in seiner kindlichen Vorstellungswelt geglaubt hatte, dass die Wache der richtige Ort für das Geständnis eines jugendlichen Brandstifters war. Mein Vater hatte kein schlechtes Gewissen, er hatte einfach nur Angst. Er befürchtete, dass seine Tat im Nachhinein doch noch entdeckt werden würde, und weil er wusste, dass seine Mutter ihn halbtot schlagen würde, offenbarte er sich einem Polizisten.
Mein Vater erzählte auf der Wache nicht nur vom Holzschuppen, den er in Brand gesetzt hatte, sondern schilderte unter Tränen auch die drakonischen Strafen, denen er ausgesetzt war. Der Beamte nahm meinen Vater bei der Hand und begleitete ihn nach Hause, ein übergewichtiger Polizist, der auf dem Weg in seiner Uniform ins Schwitzen geriet, mit einem verweinten Kind an seiner Seite, das sein Sohn hätte sein können. Er lieferte meinen Vater bei Arnold in der Werkstatt ab und ging dann hinüber ins Wohnhaus, um ein längeres Gespräch mit Marianne zu führen. Mein Vater hat nie erfahren, was damals genau besprochen wurde, doch anschließend blieb er für einige Wochen von Schlägen verschont.
|147| D ie Wirkung, die der Besuch des Polizisten gehabt hatte, hielt nicht lange vor. Abgekaute Fingernägel, ein fehlender Hemdknopf, verschmutzte Wäsche, es waren Kleinigkeiten, die Marianne zur Raserei brachten. Mein Vater bezog bald wieder regelmäßig Prügel, und wenn Marianne von ihm abließ, dann nur, um ihn für Stunden im Keller einzusperren, in einen finsteren Verschlag, der gleich neben Annas Speisekammer lag, von deren reich bestückten Regalen er mir früher immer vorgeschwärmt hatte.
Als er auf das Gymnasium kam, wurde es noch einmal schlimmer. Nach der Volksschule hatte er zunächst in Fürstenau die Mittelschule besucht. Er brachte gute Noten mit nach Hause, und nach eineinhalb Jahren sollte er auf das neusprachliche Gymnasium in Quakenbrück wechseln, auf dieselbe Schule, in der Józef nach dem Krieg versucht hatte, sein Abitur nachzuholen. Nach dem Ende der Sommerferien lief mein Vater von nun an jeden Morgen um kurz vor sieben vom Haus seiner Großeltern zum Bahnhof, um in den Schülerzug zu steigen.
Bald gab es Probleme. Er fand sich auf dem Gymnasium nicht zurecht. Seine Leistungen fielen ab, und die schlechten Noten boten Marianne neuen Anlass für Schläge. Wenn er sich mittags mit einer Fünf in Mathematik oder Französisch im Ranzen in das überfüllte Dritte-Klasse-Abteil |148| des Zuges zwängte, wusste er bereits, was ihn zu Hause erwartete. Die Angst vor dem Zorn seiner Mutter wuchs von Mal zu Mal, und an einem Dienstag im Oktober, als er wieder ein mit roter Tinte übersätes Heft in seiner Tasche hatte, das er zu Hause zur Unterschrift vorlegen musste, traf er eine Entscheidung. Während die anderen Schüler sich im Zug um die Plätze auf den schmalen Holzbänken balgten, beschloss mein Vater, von zu Hause wegzulaufen.
Mein Vater hatte mir oft erzählt, wie er damals ausgerissen war, aber dass nicht allein die
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